Wenn die Kinder in den "Gotteskrieg" ziehen, gibt es Hilfe

"Alle Eltern sind sehr traurig, hilflos und haben Panik"

Über 400 junge Muslime aus Deutschland sind als sogenannte Gotteskrieger nach Syrien und in den Irak gereist. Ahmad Mansour berät unter anderem Familien in der Beratungsstelle Hayat der Gesellschaft für Demokratische Kultur in Berlin.

Von Berlin nach Syrien: Islamist Denis Cuspert  / © Youtube
Von Berlin nach Syrien: Islamist Denis Cuspert / © Youtube

domradio.de: Für viele ist es unvorstellbar, wie sich ein Mensch plötzlich so radikalisieren kann. Was genau treibt denn diese jungen Menschen an?

Ahmad Mansour: Erst einmal geht es da um einen Prozess, das passiert nicht von heute auf morgen. Das ist ein Prozess, der manchmal auch Jahre dauert, bis die Jugendlichen irgendwann diesen Entschluss treffen und nach Syrien oder in den Irak ziehen. Aber diese Gruppierung ist für die Jugendlichen sehr attraktiv, bestimmte Jugendliche sind auf der Suche nach einem Sinn, sie brauchen eigentlich Struktur und Orientierung. Der IS bietet sozusagen Wahrheit an, eine Exklusivität, den Wahrheitsanspruch, die einzig richtige Islaminterpretation zu haben, ein Paradies, ein einziger Lebensweg. IS bietet Werte und Eindeutigkeit in Bezug auf richtig und falsch. Dazu kommt Gehorsam – sie haben ganz viel mit Jugendlichen zu tun, die eigentlich keine Vaterfigur in der Familie haben und durch diese Gruppierungen, durch charismatische Autoritäten eine solche Vaterfigur bekommen. Natürlich spielt auch die Gemeinschaft eine Rolle, in einer Gruppe unter Gleichen zu sein, Freunde zu finden und natürlich auch Gerechtigkeit – viele Jugendliche haben einen großen Sinn für Gerechtigkeit und angeblich geben diese Gruppierungen wie der IS eine Art Opferidentität, aber v.a. auch Solidarität mit den Unterdrückten und Leidenden in dieser Welt.

domradio.de: Sie selbst waren als Jugendlicher ja auch Islamist, beschreiben zum Beispiel in einem Artikel für den "Tagesspiegel", wie Sie in der Moschee und in einer Gruppe Gleichgesinnter auch eine Art "Geborgenheit" gefunden haben. Welche Rolle spielt denn diese Geborgenheit und Gemeinschaft auf der einen Seite, aber auch die Religion auf der anderen Seite?

Mansour: Eine sehr große Rolle natürlich, weil diese Jugendlichen, besonders die, die den Islam annehmen, dies tun, weil sie vorher unglücklich waren, weil sie auf der Suche sind. Und auf einmal finden sie eine Gruppe, die sie akzeptiert, wie sie sind. Das ist nur der Schein, natürlich müssen sie auch bestimmte Regeln befolgen, sie müssen beten, sie müssen sich der Gruppe anschließen, sie müssen sich vom Aussehen her anpassen, aber trotzdem: Sie finden Freunde, die sie unterstützen, die dabei sind. Die Religion spielt eine große Rolle, denn die Salafisten haben nichts Neues erfunden, sie haben nur Inhalte aus dem Mainstream-Islam überspitzt und radikalisiert dargestellt, d.h. wenn wir dagegen kämpfen wollen, dann müssen wir eine innerislamische Debatte führen, in der diese Inhalte in Frage gestellt und Alternativen geschaffen werden, was bis jetzt nicht der Fall ist.

domradio.de: Die Eltern, die in Ihre Beratungsstelle kommen, sind zum einen muslimisch-konservativ, zum anderen aber auch liberal oder sogar christlich. Wie gehen denn diese Elterngruppen mit der Radikalisierung ihrer Kinder um ‑ gibt es da Unterschiede oder vielleicht Gemeinsamkeiten im Verhalten?

Mansour: Alle Eltern sind sehr traurig, hilflos und haben Panik – manchmal auch zu Recht, denn es geht um die Zukunft ihres Kindes, es geht auch um die Frage, ob ihre Kinder in Deutschland bleiben oder abhauen. Wir haben ganz viele Fälle, in denen die Kinder nicht mehr in Deutschland sind. Diese Hilflosigkeit, diese Panik und diese Trauer – das eint alle Eltern. Wenn wir z.B. muslimische Eltern beraten, dann merken wir immer wieder, dass sie meist zu spät anrufen, wenn die Islamisierungstendenzen schon sehr, sehr weit fortgeschritten sind. Bei deutschen Eltern merken wir, dass sie mit dem Thema eigentlich sehr überfordert sind, dass manchmal auch allein die Tatsache, dass die Kinder Muslime geworden sind, die Eltern überfordert, dass sie nicht nur sehr traurig, sondern auch manchmal einfach beleidigt sind, weil die Kinder keine Weihnachten feiern wollen, weil sie keine Geschenke zum Geburtstag haben wollen, weil sie nicht mehr zuhause essen wollen, weil die Eltern mit Schweinefleisch kochen etc. pp. Man merkt aber, dass die Eltern einfach schon monatelang auf der Suche waren, bis sie unsere Beratungsstelle gefunden haben. Wir müssen diese Hilfestrukturen bewusster machen, damit alle Eltern etwas davon mitkriegen.

domradio.de: Was können denn Eltern konkret tun, wenn sie merken, dass ihr Kind sich radikalisiert und zum Islamisten wird?

Mansour: In den meisten Fällen müssen wir erst einmal mit der Kommunikation in der Familie beginnen. Wenn die Kommunikation stimmt, wenn die Kinder das Gefühl haben, dass die Eltern Bezugspersonen sind, dass die Eltern mit ihnen darüber sprechen wollen ‑ und nicht nur abwertend, nicht nur ablehnend ‑, dann schaffen wir ganz, ganz viel. In den meisten Familien ist diese Kommunikation schon so kaputt, dass es fast keinen Kontakt zwischen Kindern und Eltern mehr gibt. Eltern müssen auch verstehen, dass dieser Prozess sehr, sehr lang dauern wird. Das ist nichts, das man in zwei, drei Gesprächen schaffen kann. Das ist eine Arbeit, die die Eltern auch emotional belasten wird, aber wenn sie das mitmachen, wenn sie unsere Beratung in Anspruch nehmen, dann versichern wir ihnen, dass wir alles tun werden, um die Kinder zu erreichen. Wir beraten keine Aussteiger, die meisten Radikalen wollen auch nicht beraten werden. Durch die Eltern versuchen wir, Kontakt zu den Kindern zu bekommen, sie immer wieder zum Nachdenken zu bringen und kritisches Denken bei ihnen zu fordern.

domradio.de: Sie haben einmal geschrieben, dass sich vor allem die Mütter bei Ihnen melden. Die Väter würden schon lange keine Rolle mehr spielen. Wie genau muss man das verstehen?

Mansour: Wie bereits eingangs erwähnt: Hier geht es um die Vaterfigur. Wenn man psychologisch analysiert, dann merkt man, dass bei den meisten dieser Kinder der Vater keine Rolle gespielt hat. Und das ist auch ein Grund, weshalb diese Gruppierungen so attraktiv für die Jugendlichen sind, in diesen Gruppen finden wir eine patriarchalische Vaterfigur, das kann der Imam sein, das kann Gott sein, Gott, der bestraft, Gott, der eigentlich ganz deutlich ist in seinen Erwartungen an diese Kinder. Und das ist genau dieser Ersatz für die Vaterfigur, die in der Familie fehlte.

Das Interview führte Friederike Seeger.


Quelle:
DR