Folgen des Bürgerkriegs in Sri Lanka

Verschwunden in den Wirren

In vielen Familien in Sri Lanka herrscht quälende Ungewissheit: Vier Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs werden immer noch Tausende Menschen vermisst. Ihre Angehörigen wagen keine Nachforschungen, aus Angst.

Autor/in:
Nina Waldorf
Sri Lanka: Spurensuche in der Zeitung (epd)
Sri Lanka: Spurensuche in der Zeitung / ( epd )

Meistens wirft der alte Fischer Raghu Dixon nur einen flüchtigen Blick in die Zeitung. Er braucht die Blätter vor allem als Papier, um seine Fische auf dem Markt von Jaffna im Norden Sri Lankas einzuwickeln. Aber eine längst verblichene Zeitung hütet er wie einen Schatz: Die Ausgabe der tamilischen "Uthayan" vom 10. Dezember 2011. Denn sie ist das letzte Lebenszeichen seiner verschwundenen Tochter. Der alte Mann hat Angst. Raghu Dixon ist nicht sein richtiger Name.

2007 ging seine Tochter, damals 19 Jahre alt, zu den tamilischen LTTE-Rebellen, damit ihr Bruder nicht eingezogen wurde, der mit seinem Job die Familie ernährte. Vier Jahre später hat der Vater sie in der Zeitung auf einem Gruppenbild mit rund 100 Mädchen in adretten weißen Blusen und Faltenröcken wiedererkannt. Damals seien die ehemaligen LTTE-Kämpferinnen in einer Propagandaaktion der Regierung als erfolgreich rehabilitiert in Colombo vorgeführt worden, im Parlament, vor der Presse oder beim Zoobesuch, berichtet er: "Aber sie sind nie zurück nach Hause gekommen."

Dixon ist einer von vielen Angehörigen in Sri Lanka, die auch vier Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges nicht wissen, wo ihre Söhne und Töchter, ihre Männer und Brüder sind. Am 19. Mai 2009 hatte Präsident Mahinda Rajapaksa den Sieg über die Aufständischen verkündet, nach fast 30 Jahren Krieg. Die Rebellen hatten für einen eigenen Staat für die tamilische Minderheit gekämpft, die Mehrheit der Sri-Lanker sind Singhalesen.

Tausende ungeklärter Fälle

Die von Singhalesen dominierte Regierung bestreitet, dass es zivile Opfer gibt, oder geheime Camps und politische Gefangene. Aber der Verdacht, dass junge Tamilinnen als Prostituierte gehalten werden, hält sich hartnäckig. Viele Angehörige haben Angst, bei Polizei und Armee nach ihren Liebsten zu fragen. "Dann bekommen wir noch mehr Probleme und werden schikaniert", befürchten sie. Eine unabhängige Stelle wie den Suchdienst des Roten Kreuzes nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa gibt es nicht.

Verlässliche Zahlen von Opfern fehlen in Sri Lanka. Laut Amnesty International sind es "Tausende ungeklärter Fälle". Das Leid wird durch die Ungewissheit noch größer. Nach der Niederlage der tamilischen Rebellen gibt es in ihren ehemaligen Hochburgen im Norden Sri Lankas weiter viel Militärpräsenz, Menschenrechtsverletzungen sind weiter an der Tagesordnung.

"Während des Krieges sind zumeist Männer gestorben, aber heute leiden Frauen am meisten. Sie müssen ihre Kinder alleine versorgen, sie sind der Willkür der Soldaten ausgeliefert und sorgen sich um die Verschwundenen", sagt eine Sozialarbeiterin in Jaffna, die nicht namentlich genannt werden will.

Der "White Van" kommt immer noch

Sie erzählt von einer Frau, deren Sohn ebenfalls LTTE-Kämpfer war. «Als Mutter will sie unbedingt wissen, ob er noch lebt, aber um die Familie nicht zu gefährden, schweigt sie. Das ist eine zusätzliche Traumatisierung.» Und so wäre manche Frau froh, wenigstens eine Sterbeurkunde zu haben. «Dann könnte ich meiner sechsjährigen Tochter sagen, dass ihr Vater nie wieder kommt - und das Warten hätte ein Ende», sagt eine 32-jährige Frau, die ihren Mann wenige Tage vor Kriegsende zuletzt gesehen hat.

"Während des Krieges verschwanden Tausende Menschen", berichtet der katholische Bischof von Mannar, Rayappu Joseph. "Aber wir sind alarmiert, weil heute weiter solche Fälle passieren." Der 73-jährige Menschenrechtler hat eine Statistik erstellt, nach der allein in der letzten Kriegsphase 146.679 Menschen getötet wurden oder spurlos verschwanden. Darunter viele ehemalige LTTE-Kämpfer, die sich im Mai 2009 ergeben haben.

Heute werden immer wieder Menschenrechtler, Journalisten oder Aktivisten auch im Süden mit dem berüchtigten "White Van" abgeholt, dem weißen Kleinbus des Geheimdienstes. Oder sie werden von Maskierten überfallen - in einem Land, in dem überall Baustellen von dem Boom künden, der nach Kriegsende eingesetzt hat. "Was sollen wir mit all den neuen Straßen und Hotels, wenn unsere Würde mit Füßen getreten wird?" fragt der Bischof, der mittlerweile selbst bedroht ist.


Quelle:
epd