Wie deutsche Jesuiten den Missbrauchsskandal bearbeiten

Kein Abschlussbericht

Es ist kein Abschlussbericht, sondern eher eine Baustellenbeschreibung - in Buchform bilanzieren die deutschen Jesuiten, wie sie seit Januar 2010 mit dem Thema Kindesmissbrauch ringen. Die damals von Berlin ausgehend bekanntgewordenen Fälle massenhafter Übergriffe lösten eine in Deutschland bisher beispiellose Enthüllungslawine aus.

Autor/in:
Christoph Renzikowski
 (DR)

Der nun im Kohlhammer Verlag erscheinende Sammelband zeugt von einem mühsamen Reflexionsprozess. Dabei verfolgt er vor allem ein Ziel: Er will der Versuchung vorbeugen, das dunkle Kapitel für abgeschlossen zu erklären. Diese Versuchung sei groß, räumt Provinzial Stefan Kiechle in seinem Beitrag freimütig ein.



Zwischen Rechenschaftsbericht und Ursachenanalyse

Eine Stärke des Buches sind die unterschiedlichen Perspektiven und auch Genres der Kapitel, die zwischen Rechenschaftsbericht, (Selbst)-Anklage und Ursachenanalyse angesiedelt sind: Zu Wort kommen aktuelle und ehemalige Verantwortliche, einfache Mitbrüder, externe Fachleute, wenigstens ein Opfer. Die Herausgeber, ein Münchner Professor für Metaphysik, ein Berliner Arbeiterpriester und ein Leipziger Pastoralpsychologe, legen aber auch offen, was fehlt: Ein Täter ist nicht unter den Autoren. Nach der Lektüre wäre zu ergänzen: Auch die Jesuiten, die von dem Thema genug haben, kommen nur indirekt vor.



Missbrauch gab es nicht nur bei den Jesuiten, sondern auch an anderen pädagogischen Einrichtungen. Doch in dem Buch wird vor allem nach dem ordenseigenen Anteil an den Übergriffen geforscht. Die für Jesuiten typische Erfolgskultur habe es verhindert, persönliche Abgründe in den Blick zu nehmen, heißt es etwa. Von Lebenslügen ist die Rede, und von fehlenden Kontrollmechanismen. Die Serientäter seien ausgesprochene Einzelkämpfer gewesen. Diese - durchgehend dominante Persönlichkeiten - hätten Burgen um sich herum errichtet und sich so unangreifbar gemacht. Dass dies zugelassen worden sei, stehe im Widerspruch zur Ordensregel.



"Wirklichkeit des Bösen" nicht ernstgenommen

Rolf D. Pfahl, der Ende der 1970er Jahre Rektor am Berliner Canisius-Kolleg und danach sechs Jahre norddeutscher Provinzial war, rätselt noch immer, warum er die "deutlichen Signale" in Richtung Missbrauch einfach nicht wahrnahm. Es sei ihm bis heute unverständlich. Dass es in Jesuiteneinrichtungen Täter und Opfer geben könnte, erschien ihm damals so weit weg "wie die Existenz eines Kaisers von China". Die "Wirklichkeit des Bösen innerhalb der Kirche selbst" habe keiner ernstgenommen.



Mitherausgeber Godehard Brüntrup mag sich mit solchen theologischen Erklärungen nicht begnügen. Mehrfach hätten sich Betroffene an Ordensobere gewandt, ohne Gehör zu finden, und auch Mitbrüder, die kritische Fragen gestellt hätten, seien bisweilen "diffamiert und mundtot gemacht worden, solange sie sich im Einflussbereich der Täter befanden".



Dass bis 2010 niemand in seinem Orden den entscheidenden Satz "ich glaube Dir" zu den Opfern habe sprechen können, diese Einsicht aus dem Skandal lege sich ihm "bleischwer auf die Seele", schreibt der Jesuit. "Man möchte dann am liebsten all die schönen Bücher über ignatianische Pädagogik einfach zuklappen, und die Läden dichtmachen."



Von einer echten Versöhnung mit den Opfern sieht Brüntrup seinen Orden noch weit entfernt, wenn es denn überhaupt eine geben kann. Jedenfalls sei der Weg dorthin "unendlich weit". Sein Provinzial verweist darauf, dass diesen Schritt nur die Opfer selbst gehen könnten - "aus freien Stücken". Und wenn sie das nicht täten, "müssen wir das schmerzhaft aushalten".



Hinweis: Godehard Brüntrup, Christian Herwartz, Hermann Kügler (Hrsg.), "Unheilige Macht. Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise, Kohlhammer Verlag Stuttgart, 202 Seiten, 22,90 Euro.