Provokationen vor Kirche führen zu Straßenkämpfen

Neue Gewalt in Nordirland

Die Bilder erinnern an die 1970er Jahre: Vermummte Demonstranten werfen im nordirischen Belfast Pflastersteine und die Polizei fährt mit Wasserwerfern auf. Bei den schwersten Ausschreitungen seit Jahren in Nordirland wurden mehr als 60 Polizisten verletzt. Trotz des zuletzt erfolgreich gestalteten Friedensprozesses kommt Nordirland nicht zur Ruhe. Über die Gründe spricht der Nordirland-Experte Bernhard Moltmann im domradio.de-Interview.

Autor/in:
Jochen Hung
 (DR)

Wiederholt kam es im Stadtzentrum der nordirischen Hauptstadt Belfast zu Straßenkämpfen zwischen protestantischen Unionisten und katholischen Republikanern, bei denen die Beamten mit Steinen, Golfbällen und Brandbomben beworfen wurden. Allein am Sonntag wurden 47 Polizisten bei Auseinandersetzungen verletzt, die nach einem republikanischen Marsch im Norden von Belfast aufflammten.



Die gesellschaftlichen Grenzen existieren weiter

Im Nordirland-Konflikt stehen sich unionistische Loyalisten, die für eine Zukunft der Region im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland kämpfen, und irische Nationalisten gegenüber; letzere sehen Nordirland als Teil der irischen Republik an. Obwohl sich beide Gruppen konfessionell definieren, ist die Religionszugehörigkeit in Nordirland jedoch vor allem ein politisches und soziales Unterscheidungsmerkmal. Und trotz der offiziellen Beilegung des Konflikts existieren diese gesellschaftlichen Grenzen weiter.



Nach jahrzehntelangen blutigen Auseinandersetzungen zwischen unionistischen Protestanten und katholischen Republikanern wurde 1998 das sogenannte Karfreitagsabkommen aller Konfliktparteien verabschiedet. Es räumte der gemeinsamen Regionalregierung weitreichende Souveränität ein. In den vergangenen Jahren kam es jedoch wieder vermehrt zu gewaltsamen Ausschreitungen. Schon im Sommer 2011 gab es in Belfast blutige Straßenschlachten zwischen den Volksgruppen. Vor einigen Wochen verkündeten mehrere paramilitärische Splittergruppen eine Wiederbelebung der "Irish Republican Army" (IRA), die 2005 ihre Waffen niedergelegt hatte.



Provokative Lieder vor katholischer Kirche

Auslöser der neuen Spannungen war eine Unionistenparade Mitte Juli, bei der eine Blaskapelle vor der St. Patrick"s Church, einer der ältesten katholischen Kirche der Stadt, provokative Lieder gespielt haben soll, darunter der antikatholische "Famine Song". Die "Parades Commission", die von der nordirischen Regierung eingesetzte Institution zur Organisation der traditionellen Märsche in der Region, verurteilte den Vorfall und ordnete weitreichende Einschränkungen für künftige Paraden vor der betroffenen Kirche an.

Dieses Verbot wurde allerdings Ende August gebrochen, als dieselbe Blaskapelle erneut vor der Kirche spielte und damit Zusammenstöße auslöste.



Kirchenvertreter verurteilten die Aktion. Noel Treanor, katholischer Bischof der Diözese Down and Connor, in der Belfast liegt, bezeichnete die wiederholte Provokation damals als "unserer Stadt nicht angemessen". Es sei schon lange an der Zeit, intolerante und respektlose Bräuche der Vergangenheit aufzugeben und Religionsfreiheit für alle und Achtung vor allen Kirchen und Gotteshäusern zu fördern, so Treanor.



Protestantische und katholische Kirchenvertreter verurteilen Aktionen

Protestantische Kirchenvertreter schlossen sich der Kritik an. Der Moderator der presbyterianischen Kirche von Irland, Roy Patton, sagte, die Aktion sei nicht mit kirchlichen Werten zu vereinbaren. Der anglikanische Primas von Irland, Erzbischof Alan Harper, nannte den Vorfall "offenkundig sektiererisch" motiviert. Die traditionellen Märsche von Unionisten und Republikanern sind ein Brennpunkt für Gewalt in Nordirland. Dem aktuellen Jahresbericht der "Parades Commission" zufolge fanden 2011 fast 4.000 Märsche von Unionisten, Republikanern und anderen Gruppen statt. Davon wurden 195 als "konfliktreich" bezeichnet.



Wenn am 29. September der 100. Jahrestag des "Ulster Covenant" gefeiert wird, droht eine weitere Eskalation. Dieses Abkommen, das 1912 von fast einer halben Million Unionisten unterzeichnet wurde, war eine Protestnote gegen die Selbstverwaltung Irlands, die im selben Jahr im britischen Unterhaus verabschiedet wurde. Für diesen Tag planen unionistische Organisationen eine große Parade - die an der St. Patrick"s Church vorbeiführen soll.