Vor 100 Jahren wurde Abbé Pierre geboren

Das Gewissen der französischen Nation

"Vater der Armen" wurde er genannt. Der französische Geistliche Abbé Pierre war nie ein Mann der Sonntagsreden. Sein Leben widmete er den Verfolgten und Obdachlosen, sein Erbe verschenkte er, wortgewaltig kritisierte er Papstkirche und Politiker.

Autor/in:
Christian Feldmann
 (DR)

Köln/Krefeld (epd). Im Winter 1953/54 macht ein gnadenloser Frosteinbruch den Obdachlosen von Paris zu schaffen. Bei zwölf Grad unter null kauern sie auf den Luftschächten der Metros. Denn Frankreich leidet auch Jahre nach Kriegsende noch unter einer drückenden Wohnungsnot. Die "Emmaus-Bewegung" des ehemaligen Parlamentsabgeordneten Henri Grouès – besser bekannt unter dem Namen Abbé Pierre (1912-2007) – organisiert Notdienste für die Obdachlosen.
Nachts bringt ein Lastwagen Suppe, Brot, Wein und Wolldecken.

Vor 100 Jahren, am 5. August 1912, war Henri Grouès als Sohn eines Seidenfabrikanten in Lyon geboren worden, hatte mit 18 Jahren das väterliche Erbe verschenkt und war in den strengen Kapuzinerorden eingetreten. Im Zweiten Weltkrieg wurde er geistlicher Betreuer der Résistance, der Widerstandsbewegung, und erhielt den Decknamen Abbé Pierre.

Als in dem kalten Winter 1953/54 ein drei Monate altes Baby in dem Omnibuswrack erfriert, das seinen Eltern die Wohnung ersetzt, als eine wegen Mietschulden aus ihrer Mansarde vertriebene Frau mitten in Paris auf der Straße stirbt, da platzt dem Abbé der Kragen.

Er verfasst einen flammenden Aufruf und bringt den Direktor von Radio Luxemburg dazu, das Programm zu unterbrechen und ihn zur Nation sprechen zu lassen: "Zu Hilfe, meine Freunde! (...) Hört, was ich sage! Noch heute Abend müssen in sämtlichen Städten Frankreichs, in jedem Viertel von Paris Schilder hängen mit der Überschrift Notunterkunft für unsere Brüder !"

Eine Viertelstunde nach der Rundfunkrede stapeln sich in dem Luxushotel, das der Abbé als Spendenadresse genannt hat, bereits Wolldecken und Kleidungsstücke, Geld und Schmuck. Bald sind die Straßen um das Hotel schwarz von Menschen, die Mäntel, Bettdecken, Sparbüchsen für ihre frierenden Landsleute bringen. Die Polizei muss den Verkehr umleiten, die Post legt elf zusätzliche Telefonleitungen in das Hotel. Zwei Wochen nach dem Aufruf haben die Franzosen 250 Millionen Francs gegeben.

Überall im Land gründeten sich Hilfskomitees, wurden Behelfsunterkünfte und kleine Siedlungen errichtet. Die versierten Bauleute von "Emmaus" stellten mit dem gesammelten Geld in zehn Wochen 48 Häuser auf. "Wir sind fest entschlossen", verkündete der hartnäckige Abbé, "der Floh zu sein, der von der Mülltonne des Lumpensammlers bis auf den Schreibtisch des Ministers springt und die Herrschaften zwickt, um sie an das Elend der Notleidenden zu erinnern."

Jetzt kannte ihn endgültig jeder in Frankreich: Abbé Pierre, einst Widerstandskämpfer gegen die Nazis und nun wortgewaltiger Freund der an den Rand Gedrängten. Als Pfarrseelsorger in Grenoble hatte Abbé Grouès während des Zweiten Weltkriegs jüdische Familien vor der Gestapo versteckt: im Pfarrhaus, bei Freunden, in Klöstern. Andere Verfolgte führte er über die Alpengletscher in die sichere Schweiz.

Zweimal wurde er verhaftet, er floh aus dem Gefängnis, ging 1944 nach Afrika, war Marineseelsorger und zog nach Kriegsende für die sehr volksverbundene Republikanische Partei in das Pariser Parlament ein. Das viel zu große Vorstadthaus, wo er eine Bleibe fand, machte er zum Treffpunkt von Jugendverbänden und Arbeitervereinen - und später zur Wohngemeinschaft von Arbeitslosen, entlassenen Strafgefangenen, politischen Flüchtlingen ohne Aufenthaltserlaubnis, Obdachlosen und Alkoholikern.

Wer hier ankam, wurde nicht mildtätig verarztet, gönnerhaft betreut oder bürokratisch verwaltet, sondern sinnvoll eingesetzt, in einem Team gleichberechtigter Kameraden: Arbeit statt Almosen. Der Abbé fragte nicht nach Verfehlungen oder frommen Bekenntnissen. Er gab den Leuten das Bewusstsein, gebraucht zu werden, Fähigkeiten zu besitzen.

Die zusammengewürfelte Gemeinschaft montierte ehemalige Kriegsgefangenenbaracken ab und baute sie zu Notwohnungen um. Später rückten die Kameraden von Emmaus regelmäßig aus, um auf Dachböden, Müllplätzen, Schutthalden verwertbare Reste zu sammeln: Lumpen, Papier, Glas, Gummi, Metall wurden sortiert und an Großhändler und Fabriken verkauft. Mit dem Erlös wurden wieder Häuser gebaut und obdachlos gewordene Arbeiterfamilien vor dem Ruin gerettet.

Heute verwaltet die Emmaus-Bruderschaft allein in Frankreich 9.000 Sozialwohnungen. In 36 Staaten der Erde setzt sie sich für Menschen ohne Wohnung, ohne Arbeit ein. In Deutschland gibt es Emmaus-Gemeinschaften unter anderem in Köln und Krefeld.

Je älter er wurde, desto kompromissloser lehnte Abbé Pierre eine Zweiklassengesellschaft ab und kritisierte Profithaie, Militärstrategen und gekaufte Politiker. Er verteidigte Hausbesetzer, kritisierte Pflichtzölibat und Kondomverbot, plädierte für mehr Freiheit der Ortskirchen von römischer Einflussnahme und wünschte sich Frauen als Priesterinnen. Am 22. Januar 2007 starb Abbé Pierre im Alter von 94 Jahren in einem Pariser Krankenhaus.