Jüdischer Publizist wirft Olympischem Komitee geschäftliche Hintergrundabsprachen vor

"Die Ermordeten werden ein zweites Mal zum Opfer"

Die Olympischen Spiele in London haben begonnen. Am Abend wurde das größte Sportereignis der Welt eröffnet. Rund 80.000 Zuschauer im Olympiastadion erlebten eine spektakuläre Show. Es gab sogar eine Gedenkminute, allerdings nicht für die 11 ermordeten israelischen Athleten in München 1972. Im domradio.de-Interview wirft der jüdische Publizist Günther B. Ginzel dem IOC einen Verrat an den olympischen Idealen vor.

 (DR)

domradio.de: Die offizielle Begründung des IOC lautet, dass eine Schweigeminute nicht dem fröhlichen Charakter einer Eröffnungsveranstaltung entspräche.

Ginzel: Ich halte das für ein vorgeschobenes Argument, dass an Inhaltslosigkeit nicht zu übertreffen ist. Es ist einfach Ausdruck der Feigheit, der Unentschlossenheit, des mangelnden Begriffs von dem, was eigentlich olympischer Frieden heißt. Bei Olympia sind alle nur Sportler: Deutsche, Juden, Araber, das hat mir vor vielen Jahren schon ein jüdischer KZ-Überlebender bezeugt, der für England bei den Spielen antrat. Egal welcher Hintergrund, egal welche Konflikte es gibt. Das ist es, was dem olympischen Komitee fehlt! Man ist so fixiert auf das Geschäftemachen, dass man die Ethik, die hinter den Spielen steht, nicht mehr berücksichtigt.



domradio.de: Handelt das IOC auf Druck der arabischen Welt?

Ginzel: Da habe ich überhaupt keine Zweifel, sonst ist das ja nicht zu erklären. Schon als das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung auch den Antisemitismus verdammte, hatte es einen Aufstand in der gesamten arabischen Welt gegeben. Eine Verdammung des Antisemitismus würde zur maßgeblichen Beeinträchtigung der Lebenssituation von Christen in der arabischen Welt führen, lautete die Drohung. Solchen Erpressungen darf man nicht nachgeben! Aber wir ergeben uns den Extremisten. Wie will ich denn mit meinen Feinden und Nachbarn Frieden schließen, wenn nicht einmal Olympia in der Lage ist, der Ermordeten zu gedenken? Und wenn etwa iranische Sportler nicht ausgeschlossen werden, wenn sie sich weigern den olympischen Frieden anzuerkennen, sondern kategorisch erklären, dass sie nicht gegen israelische Sportler antreten? Das IOC ist fixiert auf ein großes Event und eben nicht mehr darauf, ein Zeichen zu setzen. Den Mut muss man schon haben, denn bei Toleranz nach allem und jedem kommt das raus, was wir nun sehen: Die Menschen, die Opfer geworden sind, werden ein zweites Mal zum Opfer.



domradio.de: 2013 wird der Nachfolger des derzeitigen IOC-Präsidenten Rogge gewählt. Bislang galt der deutsche Vizepräsident Thomas Bach als aussichtsreicher Kandidat für den Posten. Sehen Sie nun sein Ansehen dadurch beschädigt, dass er sich als Gegner einer solchen Schweigeminute geoutet hat?

Ginzel: Aber nein, wenn Sie sich mal ansehen, wie viele Skandale die Damen und Herren des IOC schon überlebt haben, ohne dass das irgendwo irgendeine Konsequenz gehabt hätte. Wir müssen damit leben, das ist die heutige Zeit. Ich habe überhaupt keine Zweifel, dass die geschäftlichen Hintergrundabsprachen, die ich hier unterstelle, einen Einfluss darauf haben werden, wer gewählt wird oder nicht. Da kann Herr Bach sich noch so viele Fehltritte erlauben.



Das Interview führte Aurelia Rütters.



Hintergrund

Der Jüdische Weltkongress (WJC) kritisiert das Internationale Olympische Komitee (IOC) als "gefühllos". Mit Bedauern und Unverständnis beobachte man die Weigerung des IOC, bei der Eröffnung der Sommerspiele in London der Opfer des Terroranschlags von München 1972 zu gedenken. Das erklärte WJC-Präsident Ronald S. Lauder. IOC-Präsident Jacques Rogge und sein Stellvertreter Thomas Bach hatten wiederholt eine Gedenk- und Schweigeminute für die elf israelischen Athleten und den deutschen Polizisten abgelehnt, die bei den Olympischen Spielen vor 40 Jahren von palästinensischen Terroristen getötet worden seien.



Eine solche Geste jetzt in London, so Lauder, hätte ein Zeichen dafür sein können, dass die Sportler der Welt gemeinsam gegen den Terrorismus stehen. Stattdessen wolle das IOC der Toten von München im September während einer kaum beachteten Zeremonie auf einem Flugfeld bei München gedenken. Das sei nicht angemessen, kritisiert der WJC-Präsident. Es gehe seiner Organisation nicht darum, die Olympischen Spiele zu "politisieren". Rogge und das IOC hätten jedoch offenkundig die Bedeutung einer solchen Geste verkannt. Er könne nicht verstehen, so Lauder, warum das Anliegen des WJC sowie vieler Familienmitglieder und Freunde der damaligen Opfer abgelehnt worden sei.