Patriarch Rai: Christen sollen zwischen Muslimen vermitteln

"Der Libanon ist seit jeher das Opfer"

Mitte September besucht Papst Benedikt XVI. den Libanon, ein Land mit einer langen christlichen Tradition. Der Patriarch der mit Rom unierten Maroniten, Bechara Rai (72), spricht im Interview über die aktuelle Lage der Christen und der Muslime im Land. In dem Jahrhunderte währenden Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten sollten Christen eine vermittelnde Rolle einnehmen, damit der Libanon seine Identität als modernes, offenes Land nicht verliere.

 (DR)

KNA: Herr Patriarch, wie steht der Libanon derzeit da, nach den zahlreichen Umbrüchen in der Region und zwei Jahre nach der Bischofssondersynode über den Nahen Osten?

Rai: Bei dem herrschenden Konflikt in Nahost und im Libanon handelt es sich um einen alten Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, der seit 1.300 Jahren andauert. Der Libanon ist seit jeher das Opfer dieses regionalen Konflikts und seiner internationalen Implikationen. Der Konflikt hat großen Einfluss auf die Christen, weil sich ein Teil der Christen - aus der sogenannten Gruppe des "14. März" - mit den Sunniten verbünden, und ein anderer Teil, aus der Gruppe des "8. März", mit den Schiiten. Mit diesen Bündnissen hat leider auch ein politischer Konflikt zwischen den Christen begonnen, der ihre Rolle sehr schwächt.



KNA: Worin besteht denn die Rolle der Christen?

Rai: Die Christen sind immer noch stark in ihrer Zahl sowie in ihren Ressourcen und Institutionen. Anstatt sich politisch mit der einen oder der anderen Gruppe zu verbünden, sollten sie verbindend wirken. Wir rufen dazu auf, Brücken zu bauen. Ich glaube, selbst die Muslime erwarten von uns diese Rolle der Annäherung im Dienst der libanesischen Sache. Heute sind die Christen aufgrund des Konflikts politisch geschwächt. Wenn sie schwach bleiben, besteht die Gefahr, dass der Libanon nach und nach seine Identität als ein Land des Miteinanders verliert, als Land, das offen ist für die Moderne, für Menschenrechte und öffentliche Freiheit. Gewisse Rückschritte in kultureller, sozialer und politischer Hinsicht sind schon feststellbar. Wir sehen wachsende religiöse Konflikte, nicht zwischen Muslimen und Christen, sondern innermuslimisch zwischen Schiiten und Sunniten. Das schwächt den Staat zusätzlich. Wir haben heute einen schwachen Staat mit verschiedenen Gemeinschaften, die davon zu profitieren versuchen.



KNA: Zudem hat der Libanon mit Auswanderung zu kämpfen.

Rai: Die Zahl der Christen geht zurück, aber die Emigration ist kein christliches Phänomen, sondern betrifft die Muslime noch stärker. Die Gründe sind wirtschaftlicher Natur. Die libanesische Wirtschaft hat unter dem Krieg gelitten. Viele junge Libanesen studieren, finden keine Arbeit und wandern aus. Der Rückgang der Christen ist ein großer Verlust, denn das christliche Element unterscheidet den Libanon von allen anderen Ländern der Region. Durch den starken christlichen Einfluss wurde eine Kultur der Demokratie geschaffen, in der Muslime auf die Errichtung eines religiösen Systems verzichten, während die libanesischen Christen auf eine westliche Laizität verzichtet haben. Wenn die Christen an Zahl und Einfluss verlieren, riskiert das Land den Verlust einiger seiner Identitätsmerkmale. Wir hoffen darauf, die Gestalt des Landes erhalten zu können, das - wie Papst Johannes Paul II. formulierte - eine Botschaft ist für den religiösen Orient und den laizistischen Okzident. In diesem Sinne müssen wir als Brücken Zeugnis geben und hoffen, das wir es aufrecht erhalten können.



KNA: Welche Bedeutung hat in der derzeitigen Situation der Besuch von Papst Benedikt XVI.?

Rai: Alle Libanesen erwarten den Papst mit der großen Hoffnung, sein Besuch werde Frieden im Libanon und im ganzen Nahen Osten säen. Der Papst kommt nicht nur für den Libanon, sondern für den ganzen Nahen Osten. Er hat sich für den Libanon entschieden, für das, was das Land darstellt: eine Hoffnung für den Nahen Osten, der derzeit viele schwierige Momente durchlebt. Der Besuch des Papstes muss zu einem christlichen Frühling werden, um den Arabischen Frühling zu unterstützen. Die Christen sind seit der Zeit Jesu in der Region, seit 2.000 Jahren, länger als der Islam. Sie haben die Gesellschaft dieses Nahen Ostens durch das Evangelium geprägt. Wenn wir vom Evangelium reden, reden wir von Menschenwürde, vom Wert der menschlichen Person als Abbild Gottes, als Geschwister und Kinder des einen Vaters im Himmel. Wir reden von einer Kultur der Liebe, der Brüderlichkeit und des Friedens. Das Kommen des Papstes wird Antrieb sein für einen christlich-arabischen

Frühling: nicht mit Waffen oder Terrorismus, sondern mit dem Evangelium Christi.



KNA: Welche Bedeutung hat die Nahost-Synode für die libanesischen Christen?

Rai: Die verschiedenen Diözesen und religiösen Gemeinschaften haben aktiv an den Vorbereitungen der Synode teilgenommen. Über die Medien, mit Konferenzen und mit eigenen Fernsehprogrammen haben wir über sie und ihre Ergebnisse informiert. Die Synode ist immer noch präsent. Die öffentliche Aufmerksamkeit haben wir, die Menschen sind vorbereitet und warten auf das nachsynodale Schreiben, das uns den Rahmen für unsere weitere Arbeit geben wird, die wir unmittelbar aufnehmen wollen. Im Dezember wird es ein Treffen aller katholischen Patriarchen und Bischöfe des Nahen Ostens geben, bei dem wir einen Arbeitsplan erstellen wollen, um das nachsynodale Schreiben umzusetzen. Bei uns bringt man kirchlichen und religiösen Fragen ein großes Interesse entgegen. Die Menschen sind nicht gleichgültig. Selbst bei den Muslimen ist das Interesse an der Synode groß, vielleicht sogar noch größer als bei den Christen. Die Muslime lesen die Texte, um zu verstehen, was kommen wird. Das Klima ist gut vorbereitet für das nachsynodale Schreiben. Jetzt liegt es an uns, es umzusetzen!



Das Interview führte Andrea Krogmann.