Karl Mays Spuren 100 Jahre nach seinem Tod lesen

Fremde Kulturen und christliche Moral

Karl May, der am 30. März 1912 in Radebeul starb, gehört zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern aller Zeiten. domradio.de-Redakteur Stefan Quilitz las seine Romane vor 40 Jahren. Jetzt hat er erneut darin gestöbert und nach Spuren gesucht, warum Karl May heute noch lesenswert sein könnte.

Autor/in:
Stefan Quilitz
 (DR)

Verschlungen haben wir ihn, damals, in den 1970er Jahren, als er noch gelesen wurde. Das ist heute anders. Nach den Vertonungen, Verfilmungen und Verulkungen ist Karl May ins Abseits der Jugendliteratur geraten. Und nicht nur er - der ganze Wilde Westen ist aus der medialen Öffentlichkeit verschwunden. Doch der 100. Todestag von Karl May am 30. März stößt dann doch auf unerwartetes Interesse. Der Karl-May-Biograph Helmut Schmiedt, Literaturwissenschaftler und stellvertretender Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft, ist überrascht über die vielen Einladungen, aus seiner Biographie zu lesen. Bietet er an seinem Lehrstuhl der Koblenzer Universität Karl May als Thema an, zeigen sich junge Studenten durchaus interessiert, wirklich gelesen haben Karl May dann aber doch nur die älteren Gasthörer.



Der Selbstversuch, Karl May wieder zu entdecken, macht die Gründe deutlich: Irgendwie schleicht sich der Ich-Held Charlie respektive Kara Ben Nemsi gefühlte fünfzig Mal pro Band an, befreit sich ebenso oft aus aussichtsloser Gefangenschaft, lässt wieder und wieder die Schurken laufen und liest aus unendlich vielen Hufspuren den exakten Weg derselben. Das damals faszinierende Muster der Erzählungen, durchaus genial variierend von Karl May eingesetzt, nervt.



Und dennoch: gerade für älter gewordene "ehemalige" Karl-May-Leser ist es spannend, ihm im Detail näher auf die Spur zu kommen, und dies lockt auch das Publikum in die Lesungen von Helmut Schmiedt. Da sind zum Beispiel jene Passagen - oft an den Anfang der Romane platziert -, die wir als Jugendliche gern übersprangen, die Beschreibungen von Land und Leute fremder Kontinente. Karl May verleiht durch diese Details seinen Bänden und sich selbst hohe Sachkompetenz. Virtuos nutzt er die damaligen Quellen (und gerät dabei bekanntermaßen immer mehr er in den Sog seiner Ich-Erzählungen, suggeriert über die Bücher hinaus, dass er all das Beschriebene selbst erlebt habe, dass er gar selbst Old Shatterhand sei).



Manchmal grenzt sein Werk an Größenwahn

Der ergraute Karl-May-Leser, der sich heute als Tourist wie kein anderer in fremden Kulturen tummelt, liest aber jetzt neugierig gerade diese Passagen. Wer schon vor den Ruinen von Baalbek in der Bekaa-Ebene des Libanon stand, sieht noch heute die Ruinen und den mächtigen Monolithen von über zwanzig Meter Länge, wie ihn Karl May genauso daliegend in "Von Bagdad nach Stambul" beschrieb.



Karl Mays Romane als Reiseliteratur? In der damaligen Werbung für Karl Mays Romane hat man genau diese Reisebeschreibungen in den Vordergrund gestellt, nicht die Abenteuer, erzählt Helmut Schmiedt im domradio.de-Interview. Mays Reisebeschreibungen ins Reisegepäck unserer Tage zu packen, das funktioniere noch heute, May hätte aber durchaus auch Fehler diverser Quellen übernommen. Überprüfen konnte er sie nicht. Wie auch? Auch wenn er alle Welt glauben macht, die Abenteuer seiner Helden selbst erlebt zu haben, unternimmt er doch erst nach 1900 zwei große Reisen in die USA und in den Orient, und diese auch eher auf touristischen Pfaden und vor allem, nachdem er seine Reiseerzählungen geschrieben hat. Längst weiß da die Öffentlichkeit von seinen Gaukeleien.



Von da an schreibt May sein Spätwerk, das schon damals niemand mehr so recht lesen will, und in dem er sich berufen sieht, für den "Frieden auf Erden" zu werben. May will eine weltweite sozial-ethische Bewegung einleiten, wie Schmiedt ihn in seiner Biographie zitiert, er sähe sein Werk gar als "Gotteshaus". All das grenzt schon an Größenwahn, ist aber dem Leser von einst wie von heute eh kaum bekannt.



Überkonfessionell, aber nicht nur aus Pragmatismus

Aber vielleicht stößt Mays Sendungsbewusstsein durchaus auf ein neues Interesse seiner alten Leser, denn schon in den beliebten Reiseerzählungen sind seine Helden stets moralische Vorbilder. Karl May versteht sich als Christ, schreibt als Protestant (der er zeitlebens war) anfangs vor allem für eine katholische Schrift, hat also genau in diesem Milieu seine frühen Leser - und dies in einer Zeit, als zwischen den Konfessionen tiefste Gräben gezogen waren. May kann sich aber anpassen, schreibt ebenso fromme Geschichten, wie er auch den Klerus verhöhnt. Er lässt Bischöfe Empfehlungen schreiben und korrigiert gleichzeitig behutsam Passagen seiner Abenteuer, als er sie in Buchform herausbringt und größere Leserkreise auch unter den Protestanten gewinnen will.



Mays Werk ist überkonfessionell, aber nicht nur aus Pragmatismus. Und: die Grundlinie von Karl Mays Moral und christlichem Humanismus hat etwas Zeitloses. Old Shatterhand bzw. Kara Ben Nemsi predigt Toleranz, löst Konflikte friedlich, liebt seine Feinde, setzt das Recht über die Blutrache, nach der selbst Winnetou anfangs ruft. Aber - und hier ist Karl May ganz in seine Zeit gebunden - sein Held ist auch Missionar, der gute, gebildete Deutsche bekehrt den gutwilligen Winnetou zum Christentum, auch Hadschi Halef bekennt sich zuletzt im Innersten zum Christsein.



Helmut Schmiedt erzählt im domradio.de-Interview von einem ägyptischen Karl-May-Doktoranden, der sich über Karl May stets geärgert habe, weil dieser den Orient so schräg und falsch darstelle. Anderseits habe der Ägypter aber viele Deutschen getroffen, deren Interesse am Orient durch Karl May geweckt worden sei. Genau diese Widersprüchlichkeit, die auf vielfache Weise im Werk und in der Biographie Karl Mays steckt, lohnt es, ihn heute neu und auch anders zu entdecken - so man denn die Gabe des Spurenlesens hat. Aber die hat der Karl-May-Leser ja schon damals beim ersten Lesen von Charlie gelernt.



Hinweis: "Karl May oder Die Macht der Phantasie" von Helmut Schmiedt ist im Verlag C.H.Beck erschienen.