Medizinethiker Nagel bewertet Organspendelösung als nicht ausreichend

Nachdenken als Bürgerpflicht

Der Medizinethiker Eckhard Nagel hält die Gesetzes-Pläne zur Abfrage der Organspendebereitschaft für nicht weitreichend genug. "Eine Entscheidungslösung suggeriert, dass wir uns auch wirklich alle entscheiden. Das ist aber nach dem jetzigen Wortlaut des Gesetzes offenbar nicht so gemeint", sagt Nagel im domradio.de-Interview.

 (DR)

domradio.de: Wie genau muss man sich die Entscheidungslösung vorstellen?

Nagel: Das, was jetzt in dem Gesetzentwurf beschlossen werden soll, ist, dass jeder Post von der Krankenkasse bekommt. Die Krankenkassen sollen über die Organtransplantation, die Organspende ausführlich informieren und gleichzeitig auffordern, einen Organspendeausweis auszufüllen. Diese Erinnerung wird dann ein Jahr später wiederholt und nach fünf Jahren erneut. Man versucht durch diese konkrete Ansprache, jeden dazu zu bringen, einen Organspendeausweis auszufüllen. Dort kann man ja oder nein ausfüllen.



domradio.de: Wie bewerten Sie denn aktuellen Gesetzentwurf?

Nagel: Ich persönlich habe mich wie der Nationale Ethikrat für diese Entscheidungslösung eingesetzt, weil ich glaube, dass wir eine Pflicht haben, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Das Transplantationsgesetz aus dem Jahr 1997 schreibt vor, dass jeder Angehörige auf einer Intensivstation, wenn jemand dort verstorben ist, zu dem Thema gefragt wird. Da muss man sich dann entscheiden, wie der Verstorbene gedacht hat, ob er für oder gegen eine Organspende war. Es gibt eine Pflicht sich zu äußern, in einer Situation, die ausgesprochen schwierig ist, weil natürlich ganz andere Fragen bei dem plötzlichen Tod eines nahen Anverwandten stehen als das Thema Organspende. Insofern glaube ich, weil ich auch dafür bin, dass sich jeder selbst entscheidet und nicht wir als Gesellschaft über andere entscheiden, dass dies eine Bürgerpflicht ist, sich mit diesem Thema persönlich auseinanderzusetzen und dann auch für sich selbst zu entscheiden, möchte ich Organspender sein oder nicht.



domradio.de: Ihnen geht der Kompromiss zur Neuregelung der Organspende aber trotzdem nicht weit genug, was fehlt Ihnen?

Nagel: Es geht um die Ausführungsbestimmungen. Eine Entscheidungslösung suggeriert ja, dass wir uns auch wirklich alle entscheiden. Das ist aber nach dem jetzigen Wortlaut des Gesetzes offenbar nicht so gemeint, sondern es geht nur um die Aufforderung. Man könnte auch eher den jetzigen Gesetzentwurf als eine Aufforderungslösung bezeichnen, wenn ich mich dann doch mit diesem Thema nicht auseinandersetzen möchte, dann werde ich dieser Aufforderung nicht nachkommen. Das halte ich für problematisch. Denn das wissen wir: auch bei einer guten Information sind viele Menschen sehr zurückhaltend, weil sie das Gefühl haben, mich betrifft es nicht, ich bin eigentlich nicht jemand, der mit diesem Thema einmal konfrontiert sein wird und dann passiert es, wie die Realität heute zeigt, dass über 70 Prozent aller Angehörigen von Verstorbenen nicht wissen, wie derjenige, der verstorben ist, gedacht hat.



domradio.de: SPD-Fraktionschef Steinmeier hat mit seiner Nierenspende an seine Frau wesentlich zu öffentlicher Aufmerksamkeit für das Thema Organspende beigetragen. Er bedauert, dass es in den einjährigen Gesprächen unter den Bundestagsabgeordneten Bedenken gegen eine zu detaillierte Fassung und Speicherung über die Spendenbereitschaft gegeben habe. Wie nehmen Sie persönlich die Debatte unter den Politikern wahr?

Nagel: Ich habe diesen Prozess in der politischen Diskussion, auch den Anhörungen im Deutschen Bundestag, begleiten können und festgestellt, dass die Initiative, die primär von den Fraktionsvorsitzenden Kauder und Steinmeier aufgegriffen worden ist, dann im weiteren Prozess immer auch mit Fragen konfrontiert wurde. Diese Fragen gingen nicht darum, sollen wir das überhaupt machen, da waren sich eigentlich ziemlich schnell alle einig, aber es gab dann Bedenken, darf man überhaupt jemanden fragen, ist das nicht etwas, wo man Freiheit verliert, wenn man gefragt wird. Argumente, die ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. Niemand fragt uns in Deutschland, ob wir krankenversichert sein wollen. Das haben wir gemeinsam beschlossen, dass das gut ist für den Einzelnen wie für die Gesellschaft und dann gibt es eine Pflicht zur Krankenversicherung und viele andere Pflichten gibt es auch für Bürgerinnen und Bürger. Diese Bedenken habe ich nicht nachvollziehen können und genau so wenig kann ich nachvollziehen, dass auf einer Krankenkassenkarte eine solche persönliche Erklärung nicht lesbar sein soll, damit man Persönlichkeitsrechte schützt. Meine Blutgruppe kann jeder lesen, meine Allergien soll jeder lesen können, aber meine Frage zur Organspende nicht. Das kann ich wirklich nicht mehr nachvollziehen und da glaube ich sind die Details auch ein Stück weit vorgeschoben in Hinblick auf die generelle Debatte.



domradio.de: Nach Einschätzung von SPD-Fraktionschef Steinmeier wird die geplante Neuregelung der Organspende nicht automatisch zu einer höheren Spendenbereitschaft führen. Sehen Sie das denn auch so?

Nagel: Ja, das sehe ich auch so. Das ist aber nicht die Erwartungshaltung, die ich persönlich an die Entscheidungslösung habe. Hier soll eine Situation geschaffen werden, wo sich jeder von uns mit einem Thema beschäftigt, dass mich selbst angeht, dass aber auch die Bevölkerung insgesamt angeht, nämlich die wartenden Patientinnen und Patienten, die wissen sollten, dass wir uns als Gesellschaft mit diesem Thema auseinandersetzen und damit ihnen auch Solidarität gegenüber üben. Selbst wenn wir klar nein sagen, auch das ist ein Stück Solidarität, denn es gibt Klarheit. Darum ist es wichtig, dass wir eine solche breite Diskussion haben. Es ist wichtig, dass wir uns wirklich entscheiden und die Verantwortung zu uns nehmen. Aber es wird nicht automatisch dazu führen mit dieser doch etwas weichen Lösung, dass die Menschen mehr Organe spenden. Hier kommt es darauf an, ob die Information so ausreichend, so transparent und so alle verschiedenen Argumente abdeckend ist, dass die Menschen das Gefühl haben, mit dieser Information können wir uns gut entscheiden.



Das Interview führte Christian Schlegel (domradio.de)



Hintergrund: Die geplante Neuregelung zur Organspende

Der "Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz" ist ein Gruppenantrag, der von Abgeordneten aller fünf Bundestagsfraktionen getragen wird. Im Kern geht es um einen neu eingefügten Paragraf 1 im Transplantationsgesetz. Damit werden alle Bürger aufgefordert, sich mindestens einmal im Leben mit dem Thema Organspende zu befassen.



Dazu wird es zwei Hauptwege geben: Zum einen ist vorgesehen, bei der Ausgabe von Ausweisdokumenten (Personalausweis oder Pass) Organspendeausweise zusammen mit geeigneten Aufklärungsunterlagen den Bürgern auszuhändigen. Zum anderen werden Krankenkassen und private Krankenversicherungsunternehmen verpflichtet, ihren Versicherten ebenfalls geeignetes Informationsmaterial zur Organ- und Gewebespende einschließlich eines Organspendeausweises zukommen zu lassen.



Mit der sogenannten Entscheidungslösung werden die Bürger ausdrücklich aufgefordert, eine Entscheidung zur eventuellen Organspende zu fällen. Dabei können selbst einzelne Körperteile ausdrücklich ausgenommen werden oder eine Organspende grundsätzlich ablehnt werden.