Die Debatte um den Solidarpakt Ost

"Wir müssen neu über das Wort Solidarität nachdenken"

Gut 21 Jahre nach der Wiedervereinigung fordern die Oberbürgermeister hoch verschuldeter Städte des Ruhrgebietes das Ende des Solidarpaktes Ost. "Nachvollziehbar", findet Björn Enno Hermans vom Sozialdienst katholischer Frauen in Essen. Im domradio.de-Interview spricht er über soziale Missstände und ihre Folgen.

 (DR)

domradio.de: Wie beurteilen sie die Forderung der Oberbürgermeister in den Ruhrgebietsstädten nach der Abschaffung des Solidarpakts Ost?

Hermans: Die Forderung ist durchaus nachvollziehbar. Wir haben in den Ruhrgebietsstädten ähnlich problematische Verhältnisse wie in vielen Teilen des Ostens. Manchen Teil geht es hier sogar besser. Auch deshalb müsste man über das Wort Solidarität neu nachdenken.



domradio.de: Sie kommen mit ihrer Jugendhilfe und Straßensozialarbeit mitten rein in die Städte, der SKF ist auch tätig in der Kindertagesbetreuung oder der Gefährdetenhilfe. Wie sieht es tatsächlich aus - in welcher Lage sind die Menschen?

Hermans: Das Thema Armut, insbesondere die unter Kindern, stellt in unseren Städten ein großes Problem dar. Hier in Essen gibt es einen sogenannten Kinderarmutsbericht, der sich an verschiedenen Indikatoren orientiert. Herausgekommen sind erschreckende Werte: Zum Beispiel bezieht jedes dritte Kind existenzsichernde Hilfen! In Essen gibt es Viertel mit riesigen Problem; Viertel, in denen wir auch praktisch arbeiten. Hier geht es um ganz existenzielle Dinge. In zwei Stadtteilen bieten wir Mittagstische für Kinder und Familien an. Hier geht es einmal um das Thema Ernährung, aber auch darum, einfach da zu sein in der Beratung sozialer Probleme, über die man nicht hinwegsehen kann.



domradio.de: Und das ist auch eine Folge der knappen und überschuldeten Kassen in den Städten des Ruhrgebiets?

Hermans: Das Problem ist sicherlich, dass die Kommunen im Sozialen nicht mehr eigenständig handeln können. Die gesetzlichen Aufgaben werden erfüllt, aber auch nur die. Für präventive Angebote - Angebote, die im Vorfeld sinnvoll greifen - nehmen die Kommunen kein Geld mehr in die Hand. Vielleicht wäre das anders, wenn es mit dem Solidarpakt anders aussieht.



domradio.de: Was können Sie sich hier vorstellen, auch mit Blick auf die Menschen?

Hermans: Häufig geht es um komplexe soziale Problemlagen. Mal geht es um die kaputte Waschmaschine oder den Herd, die niemand ersetzt; bei Migrantenfamilien muss der Pass verlängert werden - in Berlin, und kein Kostenträger übernimmt das Geld. Und am Ende geht es vor allen Dingen um das Thema Bildung und die Frage, wie man die Chancen der Kinder erhöhen kann. All das kostet Geld.



domradio.de: Und die Abschaffung des Solidarpaktes ist die einzig denkbare Lösung?

Hermans: Man muss einfach schauen, ob es wirklich um eine Ost-West-Debatte geht. Es gibt Flecken in Deutschland, da geht es den Städten schlecht - und in anderen eben gut. Vielleicht müsste man deshalb mehr über Gesamtsolidarität in Deutschland nachdenken.

  

Das Gespräch führte Monika Weiß.