Fünf Millionen Christen denken laut Umfrage über Kirchenaustritt nach

Schwindende Selbstverständlichkeit

Jeder zehnte Christ in Deutschland spielt mit dem Gedanken, aus der Kirche auszutreten. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Heidelberger Sinus-Instituts. Besonders austrittsbereit sind demnach junge Menschen. Beide Kirchen würden von den Jüngeren zunehmend als "kühle Institutionen" wahrgenommen werden, erläutert Christiane Florin ("Christ & Welt") im domradio.de-Interview. "Christ & Welt" hat die Sinus-Umfrage vorab veröffentlicht.

Sinus: Immer weniger junge Menschen erleben Kirche als Heimat (KNA)
Sinus: Immer weniger junge Menschen erleben Kirche als Heimat / ( KNA )

domradio.de: Insgesamt sieht die Sinus-Umfrage ein Austrittspotential, wenn man die Unentschlossenen auch noch dazu zählen würde, von über fünf Millionen Menschen. Wie bedrohlich sind diese Zahlen für die Kirchen?

Christiane Florin: 5,5 Millionen von etwa 50 Millionen Kirchenmitgliedern in Deutschland, das ist rund jeder Zehnter, das ist natürlich auf dem Papier schon bedrohlich. Man muss allerdings auch wissen, dass die Leute nicht immer das tun, was sie in Umfragen angeben zu tun.  Aber es ist schon eine Größenordnung an der die beiden Kirchen einfach nicht vorbeischauen können.



domradio.de: 1,6 Prozent sind laut der Umfrage bei den Katholiken gewillt auszutreten, 3,2 Prozent bei den Evangelischen. Die evangelische Kirche gilt aber gemeinhin als etwas flotter, moderner.  Warum wollen trotzdem mehr Menschen dort austreten?

Florin: Das ist in der öffentlichen Diskussion oft etwas verzerrt. Wir diskutieren meistens über die katholische Kirche, weil man sich einfach an der mehr reiben kann. Es ist aber schon fast traditionell so, dass die Austrittszahlen in der evangelischen Kirche immer höher liegen. Ich kann über die Gründe nur spekulieren. Es ist tatsächlich so, die evangelische Kirche hat vieles von dem, was in der katholischen an Reformen gefordert wird, aber offenbar ist die Bindungskraft nicht so stark.



domradio.de: Ein großes Problem ist die Jugendlichen zu binden. Junge Leute, vorallem junge Menschen in Großstädten zeigen eine überdurchschnittliche Austrittsbereitschaft.  Warum haben die Kirchen in diesen Gruppen so wenig Anziehungskraft?

Florin: Was Sinus festgestellt hat, ist, dass die Kirchen einen Generationenabbruch befürchten müssen, dass in den jungen Milieus die Kirchen mit ihrer Botschaft nicht ankommen, weil beide Kirchen als sehr kühle Institutionen wahrgenommen werden. Was man auch feststellt, es gibt ein ausgeprägtes Leistungsdenken. Kirche wird nicht mehr als selbstverständlich wahrgenommen, sondern sie muss eine ganz konkrete Leistung bringen. Sie muss im Leben des Einzelnen "messbar" etwas nützen. Das ist schon ein Unterschied zu der traditionellen Einstellung, wo man Kirche als Heimat empfindet. Kirche muss sich heute sehr viel stärker rechtfertigen und ganz besonders stark bei den Jungen, die schlicht fragen: Was bringt mir das?



domradio.de: Die grundsätzliche Sinus-Studie zur Kirche ist von 2005. Die Haupterkenntnis war, dass die Kirche nur sehr spezielle Milieus älteren Datums anspricht und es hat Versuche gegeben, die Seelsorge darauf zu zuschneiden, aber trotzdem wollen Menschen austreten. Ist die Milieu-Seelsorge nicht auch zu eng?

Florin: Als die große Milieu-Studie 2005 erschien, war sie sofort kirchenintern sehr umstritten, weil sicherlich bei diesen Milieu-Gedanken auch die Frage eine wichtige Rolle spielt, wie kann ich mich anpassen und sich damit grundsätzlich die Frage stellt, soll sich Kirche anpassen, muss man die Botschaft so umformulieren, ich sage mal, wie der Kunde sie möchte. Im Text fällt auch das Wort vom Kirchenmarketing, so als sei Glaube etwas wie Coca Cola oder das neue iPad. Schon allein über die Begrifflichkeit kann man streiten, aber ich glaube, die Tatsache, dass sich die Zahlen nicht spektakulär verbessert haben, spricht zunächst nicht gegen diesen Milieu-Ansatz. Man kann auch fragen, wie wären die Zahlen, wenn man es nicht mit einer Milieupastoral versucht hätte. Ich glaube, man muss einfach noch etwas detaillierter hinschauen und es gibt sicherlich auch Beispiele dafür, wo es gelungen ist, mit dieser Milieupastoral tatsächlich Leute zu gewinnen und zwar nicht nur oberflächlich als "Kunden", sondern auch tatsächlich für die Botschaft zu interessieren. Ich möchte nicht unterstellen, dass die ganze Milieu-Forschung nur ein plattes Marketing-Instrument ist.



domradio.de: Kann Kirche überhaupt nach den Regeln des Marketings arbeiten?

Florin: Dass sie sich den Regeln des Marketings unterwerfen sollte, das würde ich doch sehr bezweifeln. Nur zu ergründen, was erwarten die Menschen heute von Religion, wie leben Menschen überhaupt, das ist sicherlich auch für die Kirche nicht falsch, so wie es auch für jedes Unternehmen nicht falsch ist. Ich muss ja wissen, wo gehe ich hin, wenn die Menschen nicht mehr automatisch zu mir kommen.  



domradio.de: Die Sinus-Studie rechnet auch vor, dass deutlich mehr als 50 Prozent der Menschen immer noch einer Kirche angehören. Man kann also immer noch von Volkskirchen sprechen - also doch alles nicht so schlimm?

Florin: Wenn man die Volkskirchen-Diskussion anfängt, dann ist man schnell in einer theologischen Debatte. Was sich aus dieser Studie auch herauslesen lässt, ist auch, dass das Glas halb voll ist. Also dass Christen, Katholiken wie Protestanten, keinen Grund haben, sich selbst zu marginalisieren. Das scheint manchmal in der öffentlichen Debatte auf: Wir armen Christen, Weihnachten ist total kommerzialisiert und wir müssen uns wehren... Eine Gemeinschaft, der immer noch rund 50 Millionen Deutsche angehören, hat keinen Grund sich selbst klein zu machen. Was man aber schon aus den Zahlen herauslesen kann, ist, dass dieses Gefühl "Kirche ist meine Heimat" doch deutlich schwindet. Es wird in 20 Jahren für die Kirche nicht mehr so viele Anknüpfungspunkte geben, wie es sie heute noch gibt. Ich fand das Spiegel-Interview mit Thomas Gottschalk vor kurzem sehr aufschlussreich. Er hat dort beschrieben, wie er als Messdiener aufgewachsen ist, dass er Marienlieder singen kann. Das ist eben eine Erfahrung, die heute junge Leute nicht mehr so machen und an die man dann in Zukunft nicht mehr anknüpfen kann. Da muss man sich sicherlich andere Wege überlegen, um Leute anzusprechen, aber das Selbstverständliche, das immer auch im Begriff der Volkskirche mitschwingt, das schwindet.   



Das Interview führte Stefan Quilitz (domradio.de)