Armutsdebatte nach Daten zur Lebenserwartung von Geringverdienern

"Wir können das nicht länger so hinnehmen"

Deutsche werden immer älter. Nur Geringverdiener sterben früher. Immer früher, das ergeben Daten der Rentenversicherung. Ein "Schock", sagt Ulrich Schneider. Im domradio.de-Interview spricht der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes über die Ursachen. Und fordert Konsequenzen.

 (DR)

domradio.de: Diese Entwicklung für Geringverdiener steht ja entgegen dem allgemeinen Trend, dass wir alle ja immer älter werden sollen. Ist das für Sie eine überraschende Nachricht gewesen?

Schneider: Das war für alle, die sich mit der Materie beschäftigen, erst mal ein Schock. Wir wussten, dass Menschen, die in Armut leben, deutlich früher sterben als Mehrverdiener. Aber bisher sind wir davon ausgegangen, dass für beide Gruppen die Lebenserwartung ständig steigt. Jetzt haben wir zum ersten Mal vorgerechnet bekommen, dass in der Tat die Lebenserwartung bei denen, die mit geringem Lohn beschäftigt waren, die Lebenserwartung gesunken ist. Das ist schon etwas, was die Alarmglocken läuten lassen sollte.



domradio.de: Warum leben Geringverdiener kürzer?

Schneider: Man hat einfach eine wesentlich belastendere Lebenssituation. Im Niedriglohnsektor arbeiten heißt häufig in Einkommensarmut zu leben, Existenzsorgen zu haben, in einer schlechteren Wohnung leben zu müssen, den Job häufig zu wechseln. Immer wieder stellt sich die Frage nach der Perspektive. All das belastet. Außerdem handelt es sich meist um die Arbeiten, die körperlich viel belastender sind, als in einem Büro zu sitzen. Das wiederum hat oft eine ungesündere Lebensführung zur Folge und führt schließlich zu einer kürzeren Lebenserwartung.



domradio.de: Wie wird der Niedriglohnsektor definiert?

Schneider: Wer weniger als 9,60 Euro in der Stunde hat, zählt man zum Niedriglohnsektor. Der mittlere Lohn liegt hier mittlerweile bei 6,50 Euro - und geht weiter runter bis zu Stundensätzen von bis zu 3 Euro.



domradio.de: Experten sehen auch Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Gesundheitssektor als Ursache an für das frühere Sterben von schlecht Verdienenden. Sie fordern eine "offensive Armutspolitik". Fordern Sie das auch?

Schneider: Unbedingt. Wir können die Armut nicht länger so hinnehmen, wir können nicht einfach zuschauen, wie die Schere in Deutschland zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Und insbesondere der Niedriglohnsektor sich weiter ausbreitet. Mittlerweile arbeiten 23 Prozent aller abhängig Beschäftigten in diesem Niedriglohnsektor, das ist deutlich zu viel. Um das zu stoppen, brauchen wir endlich gesetzliche Mindestlöhne, das ist das Mindeste. Wir brauchen eine vernünftige Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze, damit die Menschen überhaupt eine Chance, über den Monat zu kommen. Und wir brauchen eine offensive Arbeitsmarktpolitik, die auch nicht davor zurückschreckt, Arbeitsplätze im öffentlichen Raum selber zu schaffen, weil sonst den Menschen nicht mehr geholfen werden kann.



Das Gespräch führte Aurelia Plieschke.