Caritaspräsident Neher zur Bilanz des sozialen Klimas 2011

"Obdachlose sterben 30 Jahre früher"

Trotz Krisenzeiten funktioniert aus Sicht des Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, der Sozialstaat. Zugleich fordert er im Interview mehr Hilfen für psychisch Kranke, Pflegebedürftige oder Arme und zog eine positive erste Bilanz des neuen Bundesfreiwilligendienstes.

 (DR)

KNA: Herr Prälat Neher, selten ist so viel von Wirtschafts-, Finanz- und Euro-Krise die Rede gewesen wie 2011. Wie bewerten Sie das soziale Klima in Krisenzeiten?

Neher: Wir sind in Deutschland durch die aktuellen Krisen verhältnismäßig gut durchgekommen. Das ist auch ein Beweis für einen insgesamt funktionierenden Sozialstaat. Die Arbeitslosigkeit ist glücklicherweise niedrig. Insofern war 2011 kein schlechtes Jahr.



KNA: Also ein zufriedenes Zurücklehnen der Sozialverbände?

Neher: Keineswegs. Natürlich beobachten wir bestimmte Entwicklungen mit großer Sorge. Was ist mit der zunehmenden Zahl von Menschen, die psychisch erkranken? Wie unterstützen wir sie bei der Suche nach adäquaten Arbeitsplätzen? Oder wie gelingt es uns, auch in Zukunft Menschen gut zu pflegen? Was der Gesundheitsminister vorgelegt hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber keineswegs ein Durchbruch oder der beschworene große Wurf.



KNA: Was kritisieren Sie?

Neher: Die Reform springt schlicht zu kurz, weil sie die Neudefinition der Pflegebedürftigkeit außer Acht lässt. Etwa die im Alter zunehmenden psychischen Erkrankungen zu berücksichtigen und die steigende Zahl von Demenz-Patienten. Dazu zählt eine Ausweitung der Pflegestufen von bisher drei auf fünf sogenannte Bedarfsgrade. Das ist nicht umgesetzt worden, obwohl entsprechende Vorschläge des Fachbeirates zur Erarbeitung eines neuen Begriffs der Pflegebedürftigkeit seit 2009 auf dem Tisch liegen - inklusive Finanzierungsvorschlägen. Leider sehe ich keine politischen Signale, dass dies bald geschehen könnte. Auch nicht von Kanzlerin Angela Merkel.



KNA: Immerhin sehen die Neuregelungen mit einer Erhöhung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung um 0,1 Prozentpunkte Mehreinnahmen von jährlich 1,1 Milliarden Euro vor, die vor allem Demenzkranken zugutekommen sollen?

Neher: Das ist tatsächlich ein Schritt in die richtige Richtung, den die Caritas sehr begrüßt. Aber von einer zukunftssicheren Finanzierung sind wir noch immer weit entfernt.



KNA: 2012 stellt die Caritas ihre Arbeit unter das Leitwort "Armut macht krank" Sie kritisieren eine Zweiklassen-Medizin - woran wird das deutlich?

Neher: Wir wollen zum Beispiel deutlich machen, dass Praxisgebühr und Medikamentenzuzahlungen Arme vom Arztbesuch abhalten. Obdachlose haben eine um 30 Jahre geringere Lebenserwartung als der Durchschnitts-Deutsche. Darüber müssen wir reden.



KNA: Sie treten auch für eine Debatte über Prioritätensetzung und Rationierung im Gesundheitssystem ein?

Neher: Ja, hier ergeben sich sehr heikle Fragen, die wir offen angehen müssen. Es ist schlicht falsch zu behaupten, im deutschen Gesundheitswesen gebe es keine Rationierung und Priorisierung. Wir brauchen endlich eine breite gesellschaftliche Debatte über eine gerechte Verteilung der Ressourcen im Gesundheitswesen.



KNA: Ein Thema, das den Caritasverband im zu Ende gehenden Jahr stark beschäftigt hat, war der Wegfall des Zivildienstes. Seit Sommer gibt es keine Zivildienstleistenden mehr. An ihre Stelle sollen Bundesfreiwilligendienstler treten. Wie ist dieser neue Dienst innerhalb der Caritas angelaufen?

Neher: Der Anfang war zugegebenermaßen holprig. Vor allem, weil die politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen viel zu lange unklar waren. Aber mittlerweile haben wir unter dem Dach der Caritas bundesweit 3.500 BFD-Vereinbarungen geschlossen. Zum Vergleich: Zuletzt hatten wir etwa 3.800 Zivildienstleistende. Das ist eine sehr gute Entwicklung.



KNA: Wo liegen die Chancen des neuen Dienstes?

Neher: Es ist gut, dass es einen generationenübergreifenden Freiwilligendienst gibt. Erstmals können auch Ältere unter klaren Rahmenbedingungen einen sozialen Freiwilligendienst leisten. Bei der Caritas sind derzeit rund 450 Bundesfreiwillige über 27 Jahre - also rund jeder zehnte. Gut ist auch, dass der Dienst flexibler geworden ist, und so auch ein Teilzeit-Engagement möglich ist.



Das Interview führte Volker Hasenauer.