Religionspädagoge Mendl über den heiligen Martin und andere Vorbilder

"Kinder brauchen Idole"

Kinder brauchen Vorbilder. Diese These vertritt der Passauer Religionspädagoge Hans Mendl. Zu Sankt Martin spricht der Theologe über große Heilige und kleine Helden des Alltags. "Martin von Tours kann ein Vorbild dafür sein, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen", so Mendl. Als Helden eigneten sich auch ein ehrlicher Finder oder die Großeltern.

 (DR)

KNA: Herr Mendl, wie entstehen eigentlich Vorbilder?

Mendl: Vorbilder entwickeln sich vor dem Hintergrund der jeweiligen Lebensgeschichte. Sie spiegeln die individuellen Entwicklungswünsche und Sehnsüchte. Kinder, die Gitarre spielen, suchen sich zum Beispiel einen Musiker als Idol.



KNA: Brauchen Kinder heute überhaupt noch Vorbilder?

Mendl: Kinder brauchen Idole. In einer unübersichtlichen Welt, in der es viele Möglichkeiten gibt, brauchen Kinder Menschen, die zeigen, dass ein gutes Leben möglich ist. Vorbilder dienen Kindern als Orientierung für die Entwicklung eines moralischen Universums:

Für das Gespür, was das moralisch Wünschenswerte ist, auch wenn die Kinder es vielleicht selbst noch nicht umsetzen können. Momentan erleben wir eine regelrechte Renaissance des Vorbilddenkens.



KNA: Welche Idole suchen sich Kinder?

Mendl: In den Medien heißt es oft, Vorbilder seien vor allem mediale Typen, Fernsehstars, Schauspieler oder Sportler. Die Modelle, von denen man jedoch wirklich etwas lernen kann, stammen aus dem Nahbereich: die Mutter, der Vater oder die Großeltern.



KNA: Dafür steht auch ihr Konzept der sogenannten "Local heroes".

Mendl: Ich versuche, den Kreis der Vorbilder etwas weiter zu fassen, durch sogenannte "Helden des Alltags" oder "Helden auf Augenhöhe". Das sind Menschen aus der näheren Umgebung, die Gutes tun: ehrliche Finder, Helfer in einer Suppenküche oder Menschen, die Hilfstransporte organisieren. Sie sind Teil der Lebenswelt der Kinder ...



KNA: ... und deshalb als Vorbilder geeigneter als große Heilige?

Mendl: Oft ist es sinnvoller, bei den "kleinen Heiligen" anzusetzen. Kinder sollten Menschen vor Ort erleben, die sich für andere einsetzen und die Gelegenheit erhalten, dieses Verhalten selbst einzuüben; zum Beispiel im Rahmen von Sozialprojekten. In jeder Stadt gibt es ein Krankenhaus oder Altenheim, wo man diese Vorbilder kennenlernen kann. Das ist der Unterschied zu den großen Heiligen - die sind nämlich schon tot.



KNA: Martin von Tours ist auch so ein großer Heiliger...

Mendl: Das Faszinierende am heiligen Martin ist, dass er sehr spontan gehandelt hat. In einer ganz normalen Alltagssituation hat er dem Bettler geholfen, der Hilfe gebraucht hat. Der große Heilige hat etwas ganz Kleines getan. Erst in der Nacht darauf wurde er dann von Christus berufen, so heißt es in der Legende.



KNA: Was können Kinder vom Heiligen Martin lernen?

Mendl: Martin von Tours kann ein Vorbild dafür sein, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen. Wahrzunehmen, wenn jemand Hilfe braucht. Am Handeln des Heiligen Martins können Kinder üben, die Perspektive von anderen einzunehmen: "Was würdest du in dieser Situation machen?" Am Vorbild orientieren erfordert nicht einfach nur Nachahmung, sondern eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Modell. Die Grenzen des simplen Nachahmungslernens zeigen sich bei vielen Martinsumzügen: Dort bricht beim Teilen des Gebäcks regelmäßig Streit aus.



Das Interview führte Bettina Nöth (KNA)