Misereor empfiehlt Denkpause für Handelsreform

G20-Gipfel in Cannes

Papst Benedikt XVI. hat die G20-Mitglieder zum Einsatz für ein gerechtes Weltwirtschaftssystem aufgerufen. "Ich hoffe, dass die Zusammenkunft dazu beiträgt, die Schwierigkeiten zu überwinden, die eine weltweite Förderung einer menschlichen und umfassenden Entwicklung behindern", sagte der Papst vor dem Treffen am Donnerstag. Im domradio.de-Interview spricht Armin Paasch von Misereor über konkrete Forderungen an den Gipfel.

 (DR)

domradio.de: Wie sind denn die Entwicklungsländer  von der aktuellen Krise betroffen?

Armin Paasch (Misereor): Bisher ist es noch nicht richtig absehbar, wie die Entwicklungsländer davon betroffen sein werden. Es besteht aber die akute Gefahr, dass die Entwicklungsländer mit in den Strudel der Finanzkrise hineingezogen werden. Wenn wir uns die Krise von 2008/2009 anschauen, dann sehen wir, dass beispielsweise die Bankenkrise in vielen Entwicklungsländern zur Kreditklemme geführt hat, dass die Investitionen zurückgegangen sind. Die Bankenkrise war gefolgt von einer globalen Wirtschaftskrise, das hieß auch, dass die Nachfrage nach Gütern aus Entwicklungsländern nachgelassen hat und dadurch auch die Exporte gesunken sind und die Arbeitslosigkeit gestiegen ist. Ein weiterer Punkt war, dass die Rücküberweisungen von Migranten an ihre Familien in den Entwicklungsländern zurückgegangen sind, weil die Migranten häufig die ersten sind, die in einer Wirtschaftskrise die Arbeit verlieren. Das sind alles Folgen, die es in dieser Krise unbedingt zu vermeiden gilt. Deswegen fordern wir als Misereor wirklich weitreichende strukturelle Reformen, um eine Ausweitung dieser Krise zu verhindern, beispielsweise durch eine Finanztransaktionssteuer oder auch durch schärfere Regeln gegen Spekulationen mit Agrarrohstoffen.



domradio.de: Warum müssen Spekulationen auf Nahrungsmittelpreise Ihrer Meinung nach noch weiter eingedämmt werden?

Paasch: Man muss zunächst sagen, dass Spekulation an sich nichts Böses ist. Termingeschäfte mit Agrarrohstoffen gibt es schon lange. Sie haben auch eine gewisse Berechtigung, zum Beispiel wenn Produzenten und Händler für die Zukunft einen Kauf vereinbaren zum Beispiel für eine Tonne Mais zu einem fixierten Preis. Sowohl die Produzenten als auch die Konsumenten sichern sich so gegen Preisschwankungen in der Zukunft ab. Das nennt man Hedging. Das ist überhaupt nicht zu kritisieren, da fordern wir auch keinerlei Einschränkung.

Das Problem ist aber, dass ungefähr seit der Jahrtausendwende neue Akteure aus dem Finanzsektor in diese Termingeschäfte eingestiegen sind, beispielsweise Investmentbanken, Hedge Fonds, Pensionsfonds. Sie haben diesen Terminhandel überflutet und eine künstliche Nachfrage geschaffen. Das Problem ist, dass diese Akteure immer dann auf Kauf setzen, wenn die Preise steigen und die Preisdifferenz wird dann einfach "eingesackt". Nur zwei Prozent dieser Kontrakte führen letztendlich zu einem physischen Handel, trotzdem haben diese Termingeschäfte einen normalen Einfluss auf die tatsächlichen Agrarpreise. Über das Ausmaß wird gestritten, das DIW (Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, Anm. d. Red.) hat gesagt, dass 20 Prozent der Steigerungen im Jahr 2008 auf die Spekulationen zurückgegangen sind. Das hat natürlich gravierende Folgen für solche Entwicklungsländer, die stark abhängig sind von Importen.



domradio.de: Nun sind Sie Referent für Welthandel und Ernährung bei Misereor, einer großen Hilfsorganisation. Wie wirken sich die Spekulationen in einem Dorf in Afrika aus?

Paasch: Wir haben zum Beispiel im Jahr 2008 Berichte aus Kamerun bekommen, dass die Reispreise so extrem angestiegen sind, dass die Armen sich nur noch eine statt zwei Mahlzeiten leisten konnten. In El Salvador haben wir Berichte bekommen, dass die Maispreise inzwischen so hoch liegen, dass der monatliche Nahrungsmittelbedarf dreimal höher liegt als der Mindestlohn. Dieses Verhältnis, das sowieso nicht im Lot war, hat sich noch zu Ungunsten der Armen verschärft. Man muss natürlich sagen, Spekulation ist nicht der einzige Faktor, auch Agrartreibstoffe spielen eine wichtige Rolle, Klimawandel spielt eine wichtige Rolle und vermehrter Verbrauch von Futtermitteln für die Massentierhaltung.  Aber Spekulation verstärkt die Wirkung und erhöht die Preisspitzen und das ist es, was sich am Ende massiv auswirkt auf die Hungernden.



domradio.de: Kanzlerin Merkel will in Cannes vorallem vorantreiben, dass die sogenannte Doha-Runde zu einem Ende kommt, also die Weltentwicklungsrunde. Halten Sie das für richtig?

Paasch: Die Verhandlungen in der Welthandelsorganisationen WTO stocken seit Jahren. Wir sind der Meinung, das führt zu nichts. Die Verhandlungen sind gescheitert, da sind sich inzwischen alle einig. Was wir brauchen, ist vielmehr eine ernsthafte Denkpause und eine Revision der Handelsagenda. Wir meinen, dass die Welthandelsregeln, wie sie im Moment gestrickt sind, eher einseitig darauf ausgerichtet waren, den Welthandel zu steigern, auch die Gewinne von transnationalen Unternehmen zu steigern und dass lokale Wirtschaftsstrukturen vernachlässigt, teilweise geschädigt wurden. Das gilt beispielsweise auch für den Grundnahrungsmittelbereich. Diese Vernachlässigung und Schädigung von Grundnahrungsmittelproduktionen vor Ort war letztendlich auch einer der ganz wichtigen Faktoren, warum die Preissteigerungen sich dann so fatal auf die Entwicklungsländer auswirken konnten. Was wir fordern, ist, eine Denkpause, um die Handelsregeln zu reformieren und sie in Einklang mit Menschenrechten, mit Umweltschutz, mit Arbeitsrechten zu bringen und das sollte die Aufgabe sein, die die G20 sich ins Stammbuch schreiben fürs nächste Jahr.



Das Interview führte Monika Weiß.



Hintergrund

Papst Benedikt XVI. hat die Staats- und Regierungschefs, die am Donnerstag in Cannes zum G-20-Gipfel zusammenkommen, zu verstärkten Bemühungen um eine Lösung der internationalen Schuldenkrise aufgerufen. "Ich hoffe, dass die Begegnung dazu beitragen wird, die Hindernisse zu überwinden, die weltweit die Förderung einer wahrhaft menschlichen und umfassenden Entwicklung behindern", sagte er am Mittwoch bei der wöchentlichen Generalaudienz auf dem römischen Petersplatz.



Der anglikanische Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, unterstützt die Reformvorschläge aus dem Vatikan für die Finanzmärkte. Finanztransaktionssteuer und Rekapitalisierung der Banken seien kein "simpler Ruf nach einem Ende des Kapitalismus" und mehr als ein genereller Ausdruck von Unzufriedenheit, schreibt Williams in einem Beitrag für die britische "Financial Times" (Mittwochsausgabe). Die Kirche von England und die Kirche insgesamt hätten ein echtes Interesse an einer Ethik der Finanzwelt, schreibt das Oberhaupt der Anglikaner.



Mit Blick auf den G-20-Gipfel hatte der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden vor wenigen Tagen eine umfassende Reform der weltweiten Finanzmärkte gefordert. In einem in der vergangenen Woche veröffentlichten Dokument rief er die internationale Gemeinschaft zur Einrichtung einer "Weltnotenbank" auf.



In einer zunehmend globalisierten Welt sei allein eine Weltautorität kompatibel mit den "neuen Wirklichkeiten und den Bedürfnissen der Menschheit", heißt es in der Note der Vatikanbehörde. Sie trägt den programmatischen Titel "Für eine Reform des internationalen Finanz- und Währungssystems im Hinblick auf eine öffentliche Autorität mit universalen Kompetenzen".



Eine weltweite Wirtschaftsregierung müsse sich von "archaischen Kämpfen" zwischen Nationalstaaten verabschieden, um Frieden und Sicherheit, Entwicklung sowie freie, stabile und transparente Märkte zu garantieren. Im Hinblick auf eine Regulierung und Stabilisierung der internationalen Märkte fordert der Vatikan die Einführung einer Finanztransaktionssteuer sowie eine Kapitalerhöhung der Banken.



Auch Williams spricht sich ausdrücklich für eine Steuer auf Finanzmarktgeschäfte aus. Das Steueraufkommen sollte für Investitionen in die "reale Wirtschaft" eingesetzt werden. Dieser Vorstoß werde von namhaften Experten unterstützt, die nicht als "naive Anti-Kapitalisten" abgeschrieben werden könnten. Der Erzbischof von Canterbury bekundete Sympathie für die Occupy-Proteste gegen die Banken in London.