Kardinal Marx zu den Ergebnissen des EU-Sondergipfels

"Die Idee Europa ist nicht tot!"

Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich in Brüssel auf erste Maßnahmen zur Euro-Rettung geeinigt. Parallel zum EU-Sondergipfel begann in Brüssel die Herbstvollversammlung der Europäischen Bischöfe. Als deutscher Vertreter war der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx, vor Ort. Im domradio.de-Interview bewertet er die Ergebnisse beider Treffen.

 (DR)

domradio.de: Was halten Sie von den Ergebnissen des EU-Sondergipfels?

Kardinal Marx: Wichtig ist erst mal, dass ein Ergebnis da ist. Es ist ja eine wirklich schwierige krisenhafte Situation gewesen, und es stand ja auch wirklich zur Debatte: Wird Europa zusammenbleiben? Und das finde ich ein gutes Signal, dass man trotz aller Schwierigkeiten auch in Solidarität zusammensteht mit den schwierigen Herausforderungen, und versucht das technisch zu lösen. Wir haben hier als Bischöfe ja auch darüber diskutiert, jetzt nicht über die einzelnen politischen Maßnahmen - das ist ja nicht unsere Aufgabe - aber schon auch über die Ursachen. Es geht ja nicht nur um technische Fragen, es geht wirklich um die Frage: Was für ein Europa wollen wir? Und das ist erst mal ein erster Schritt, oder sagen wir mal, ein Schritt.



Aber das ist ja noch nicht das Ende, was die europäischen Länder beschlossen haben. Das ist eine Notoperation, aber Gott sei Dank haben sie zum Schluss in ihrer Erklärung auch gesagt, jetzt müssen wir weiterarbeiten. Wie wird es weitergehen mit der Integration? Welche vertraglichen Veränderungen müssen wir vornehmen? Also, das Projekt Europa ist eben nicht gestorben, sondern hat durch die Krise hindurch vielleicht sogar neue Fahrt bekommen.



domradio.de: Sie haben es ja schon gesagt, im letzten Augenblick haben die Regierungschefs dann gehandelt und eine Lösung gefunden. Es ist jedoch erst der Anfang der Rettung. Was muss denn passieren damit die Euro-Rettung und die Finanzkrise uns nicht erneut einholen?

Kardinal Marx: Ich bin kein Ökonom und kein Politiker, der jetzt, gerade wo die Notoperation gelaufen ist, schon wieder sagt, was man noch machen muss. Auf jeden Fall wird man eine bessere Koordinierung der Finanzpolitik und der Wirtschaftspolitik brauchen. Das ist aber auch angekündigt. Das ist natürlich als Ankündigung dann sehr leicht gesagt, aber was das im Einzelnen bedeutet? Es bedeutet natürlich schon, dass die einzelnen Länder auch etwas mehr an nationaler Eigenständigkeit abgeben müssen. Wenn man koordiniert, wenn man miteinander spricht, wenn man auch auf einander zugehen muss, Kompromisse machen muss, dann bedeutet das immer auch ein mühsames Geschehen. Aber umso wichtiger ist dann eben, dass der gemeinsame Wille da ist, das europäische Projekt nicht wieder zurückfallen zu lassen in nationale Egoismen sondern als gemeinsames Projekt voranzutreiben. Dazu gehört eine bessere Abstimmung in der Finanz- und Wirtschaftspolitik.



Also das, was man eigentlich am Anfang gesagt hat, als man den Euro einführte: Wir brauchen auch eine politische Union. Das ist dann über Jahre hinweg überhaupt nicht mehr thematisiert worden, das wollte man nicht. Man hat auch in den eigenen Ländern wieder so ein wenig die Eigenständigkeit hervorgerufen und man hat manchmal auch gegen Brüssel polemisiert. Das kommt ja immer gut an. Aber die Fakten sind da. Und wenn man eine gemeinsame Währung will, wenn man gemeinsam in einer globalen Welt auftreten will, wird man mehr Integration brauchen, und dazu muss man glaube ich weiter voranschreiten.



domradio.de: Europa ist ja eigentlich ein großes Friedensprojekt, Sie sagten es schon. Meinen Sie denn, dass da zu viel Idealismus mit im Spiel war am Anfang? Oder meinen Sie, dass das Projekt Europa trotz dieser aktuellen Krise gelingen kann?

Kardinal Marx: Was ist die Alternative, frage ich immer die großen Kritiker. Was ist denn die Alternative? Kann man zu viel Idealismus haben? Das sollte man einen Bischof doch lieber nicht fragen. Idealismus kann natürlich Träumerei sein, indem Sinne, dass man völlig unrealistisch vorgeht. Aber was nützen uns die politischen Tagesgeschäfte, wenn wir nicht eine große Idee haben, der wir verpflichtet sind. Gerade als Bischöfe müssen wir doch in längerfristigen Zeiträumen und in größeren Projekten denken. Ich weiß sehr gut, ich habe mich lange genug auch mit der katholischen Soziallehre auseinander gesetzt und mit den konkreten politischen Problemen, dass man immer auch kleine Schritte sehen muss. Aber man muss auch die große Vision, die große Idee, weiter im Kopf behalten. Sonst kommt man auch in den kleinen Schritten nicht weiter und läuft bei den kleinen Schritten in die falsche Richtung. Und deswegen glaube ich, ist die Idee Europa nicht tot, im Gegenteil sie muss revitalisiert werden und ich erhoffe mir, dass gerade auch die engagierten Christen nicht die großen Skeptiker sind, die ständig nur die Haare in der Suppe suchen, sondern die die große Idee, die nach dem 2. Weltkrieg wirklich unvergleichlich auf die Bahn gebracht wurde, weiter vorantreiben. Ich wünsche mir, dass die Kirche und die Christen eigentlich die Motoren der europäischen Entwicklung sind.



domradio.de: Wir haben ja in Griechenland gesehen, dass dieses Friedensprojekt zu einer umgekehrten Wirkung umschlagen kann, nämlich das die Menschen auf die Barrikaden gehen, wütend sind, weil sie ihre eigene wirtschaftliche Existenz bedroht sehen.

Kardinal Marx: Das liegt ja nicht an Europa. Das ist ja etwas, was man leider in den letzten Monaten und auch Jahren immer wieder versucht. Der eine schiebt die Schuld auf den andern. Wir als Bischöfe und Kirche möchten diese Taktik nicht, diese Schuldzuweisungen. Immer auch noch zu unterstreichen, wer Schuld hat. Es sind gemeinsam Fehler gemacht worden in den letzten 20 Jahren, das habe ich immer wieder betont, wir haben den Weg beschritten seit der Wende 1989-90 hin zu einem radikaleren Finanzkapitalismus. Das hat viele Auswirkungen gehabt. Alle Länder haben sich verschuldet, haben auf Pump gelebt, auch Private haben auf Pump gelebt. Es war eine Mentalität, die vielfältig ist.



Ich will nicht bestreiten, dass es in einzelnen Ländern besondere Probleme gibt. Aber ich glaube, es ist nicht damit getan, dass man jetzt gegenseitig mit den Fingern aufeinander zeigt. Man muss miteinander den Ursachen nachgehen und sehen, dass wir uns gemeinsam neu aufstellen müssen, dass die Verschuldung zurückgefahren wird, dass wir seriöse Haushalte haben müssen, dass wir den Finanzkapitalismus einbremsen müssen, dass wir eine soziale Marktwirtschaft auf europäischer Ebene brauchen. Dazu werden wir uns als Bischöfe auch noch äußern in den nächsten Monaten, als europäische Bischöfe. Das sind die Projekte die gemeinsam in Gang gebracht werden müssen. Ich kann gut verstehen, dass in vielen Ländern die Bevölkerung, die betroffen ist von einer Situation der Arbeitslosigkeit, unzufrieden ist. Wir haben das ja auch in anderen Ländern nicht nur in Griechenland, denken sie an Spanien, denken sie an andere Länder, wo die Jugendarbeitslosigkeit hoch ist. Da müssen wir auch wirklich ran.



domradio.de: Welche Rolle muss denn die Kirche vor Ort übernehmen, gerade wenn es dann um solche wirtschaftliche Not, um solche konkreten Notlagen der Menschen in Europa geht?

Kardinal Marx: Die Kirche ist zunächst einmal dazu da, bei den Menschen zu sein, die in Not sind. Sie hat keine Lösung, sie ist ja nicht politisch verantwortlich. Wir können nur darauf hinweisen, wo vielleicht etwas falsch läuft, wo man etwas ändern kann. Das tun wir ja auch immer wieder in unseren Dokumenten oder in unseren Gesprächen, aber wir sind kein direkter politischer Akteur.



Aber bei den Menschen muss man sein, man muss auch caritativ helfen, man muss auch die Stimme derer verstärken, die sie vielleicht nicht äußern können, etwa die kommende Generation oder die Älteren, die Arbeitslosen, da muss die Kirche auch die Stimme derer verstärken, die in einer existenziellen Notsituation sind. Da ist die Solidarität aller gefordert, sonst ist eine Gesellschaft ja nicht human, wenn sie ganze Gruppen der Gesellschaft außen vor lässt und so zu sagen nicht hinein nimmt in das Geschehen, in die Arbeit, in die Möglichkeit sich zu beteiligen, dann ist das keine Gesellschaft die man akzeptieren kann. Das war immer unsere Position.



Das Interview führte Christian Schlegel.