"Dorf-Papst" schreibt neues Buch über Landleben in Deutschland

Landfrust statt Landlust?

Ginge es nach den Auflagezahlen der Zeitschrift "Landlust", dann müsste das Leben in den mehr als 35.000 deutschen Dörfern unglaublich attraktiv sein. Doch andererseits häufen sich in den vergangenen Jahren die Abgesänge auf die Lebensform Dorf.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

Landfrust statt Landlust? "Dorf-Papst" und Geograf an der Universität-Gesamthochschule Essen, Gerhard Henkel, sieht in seinem neuesten Werk "Das Dorf. Landleben in Deutschland" auch im 21. Jahrhundert Chancen für den ländlichen Raum, in dem immer noch mehr als die Hälfte der Deutschen leben. Nach seinen Worten hat das Dorf seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen radikalen Wandel erlebt. Das gilt etwa für den Baubestand: Um 1950 war das Dorf noch relativ geschlossen. Bedingt durch zwei Weltkriege hatte es nur relativ wenige Neubauten gegeben. Doch dann setzte vielfach ein Bauboom ein: Baugebiete mit reinen Wohnhäusern entstanden, Bauernhöfe wurden ausgesiedelt.



Dem oft überdimensionierten Straßenbau mussten zahlreiche Gebäude, Mauern, Hofplätze und Gärten weichen, viele Häuser wurden "modernisiert" - ohne Rücksicht auf überlieferte Bausubstanz. Erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre kam die Wende zu einer mehr "erhaltenden" Dorferneuerung.



Einen dramatischen Wandel gab es auch im wirtschaftlichen und sozialen Gefüge: Heute sind viele Dörfer gänzlich ohne Bauern, Schmiede, Schneider, Schreiner oder Schuster. Auch hat das Dorf einen Großteil seiner Infrastruktur verloren: den Bürgermeister und Gemeinderat, Schule, Post, Geschäfte und Gasthöfe. Viele Dorfbewohner pendeln zu größeren Wirtschaftsbetrieben oder Verwaltungen. Auch die Kirche, seit Jahrhunderten für die Kultur und die Sozialgestalt vieler Dörfer prägend, vollzieht die Trennung zwischen Dorf und Gemeinde. Henkel, der aus dem westfälischen Fürstenberg stammt und dort auch lebt, warnt vor anonymen Großgemeinden. Er habe den Eindruck, dass die Bistumsverwaltungen die Dörfer nicht ernst genug nähmen, sagt er.



"Das soziale Kapital ist sehr hoch"

Den Verlusten stehen aber auch Gewinne gegenüber: etwa im Sport- und Freizeitbereich sowie bei der Infrastruktur. Sporthallen, Schwimmbäder, Reiterhöfe, Tennis- und Golfplätze und Wanderwege bieten Lebensqualität, auch für Städter. Wasser-, Strom- und Gasversorgung, Kanalisation, Fernsehen und Internet haben inzwischen auch das letzte Dorf erreicht.



Auch bei anderen Kriterien steht der ländliche Raum laut Henkel keineswegs eindeutig auf der Verliererseite. "Der Bildungsstand ist mittlerweile ebenso hoch wie in den Großstädten, manchmal sogar höher", sagt der Wissenschaftler. "Das soziale Kapital ist sehr hoch. Es gibt dichte soziale Netze, die sich etwa bei der Kinderbetreuung und der Sorge für Alte und Kranke unterstützen." Es gebe im Dorf noch viel stärker eine "Kultur des Anpackens: Man engagiert sich für das Gemeinwohl, vor allem in den zahlreichen Vereinen". Die Lebenszufriedenheit der ländlichen Bevölkerung sei mit über 80 Prozent fast doppelt so hoch wie die der Großstädter, sagt der Geograph.



Chancen auch durch die Energiewende

Für die Zukunft sieht er zwei mögliche Szenarien: Entweder halten die "Fernsteuerung und Fremdbestimmung der Dörfer" und die "Dominanz der Zentralen in Wirtschaft, Politik, Medien" an. Dann werde der ländliche Raum weiter an Charakter verlieren. In Ansätzen erkennbar sei aber auch eine andere Politik: In vielen Bundesländern zeige sich ein wachsendes Bewusstsein für den ländlichen Raum - etwa beim Erhalt auch kleinerer Schulen, freut sich der Geograph. In den Dörfern selbst sei seit den 90er Jahren ein wachsendes Lokalbewusstsein entstanden, das etwa in der Gründung von Heimat- und Fördervereinen sichtbar wird.



Chancen für den ländlichen Raum sieht Henkel auch durch die Energiewende: Jetzt könne das Land die Energieproduktion wieder mehr in die eigene Hand nehmen, etwa durch Windkraftanlagen, Solarenergie, Biogas und den Anbau von Energiepflanzen, meint er. Beim Thema Ökologie sieht der Wissenschaftler auch die Städte in der Pflicht: Sie müssten die ökologischen Funktionen des ländlichen Raumes angemessen bezahlen, fordert er.