Neue Werte- und Milieustudie

Und wo bleibt die Kirche?

Die Sinus-Milieu- und Kirchenstudie 2006 war eine der erfolgreichsten religionssoziologischen Studien im deutschen Sprachraum. Einer der Initiatoren von damals, Carsten Wippermann, Professor für Soziologie an der Katholischen Stiftungsfachhochschule Benediktbeuern, hat jetzt ein aktualisiertes Milieumodell entwickelt.

 (DR)

KNA: Professor Wippermann, Sie teilen in Ihrer neuen Studie die bundesdeutsche Gesellschaft in neun DELTA-Milieus und verschiedene Untermilieus auf - von Konservativen und Traditionellen über Bürgerliche Mitte und Postmaterielle bis hin zu den Expeditiven. Was ist damit gemeint?

Wippermann: Die Expeditiven kann man als unkonventionelle kreative Avantgarde charakterisieren, die sehr mobil und individualistisch stets neue Herausforderungen und Grenzen sucht.



KNA: Neu im Vergleich zu den bisherigen Sinus-Milieus sind auch die Benachteiligten ...

Wippermann: ... die nicht so heißen, weil wir sie von außen so beschreiben, sondern weil sie sich selbst benachteiligt, unterprivilegiert, teilweise ausgestoßen fühlen. Als Menschen, von denen sich gerade die Mitte der Gesellschaft absetzt. Problematisch ist, dass dieses Milieu nicht nur wächst, sondern dass die Menschen hier immer weniger Chancen haben, sich aus ihrer sozialen Lage zu befreien und in die Mitte der Gesellschaft aufzusteigen. Das merken sie natürlich. Das verstärkt die Selbstwahrnehmung, benachteiligt zu sein, und wird schon früh auf die Kinder dieses Milieus übertragen, die nicht mit Ambitionen und Hoffnungen aufwachsen, jemals wirklich aufsteigen zu können.



KNA: Sie haben ihre Milieustudie mit einer Wertestudie verknüpft. Was haben Sie dabei entdeckt?

Wippermann: Zunächst mal haben wir anders als in anderen Wertestudien nicht untersucht, welche Werte es in welchen Milieus gibt. Unser Frage war vielmehr: Was bedeuten bestimmte Wertbegriffe in den verschiedenen Milieus. Also was bedeutet Freiheit für Postmaterielle, für Konservative, für Hedonisten? Oder Werte wie Solidarität, Sicherheit, Leistung. Dabei zeigt sich, dass diese Wertbegriffe, die ja auch Fundament unserer Gesellschaft sind, von den Milieus ganz unterschiedlich interpretiert werden.



KNA: Also alle reden von Werten, aber jeder meint etwas anderes damit...

Wippermann: Und man kann eben nicht sagen, für ein Milieu wie die Konservativen sind Werte wie Pflicht, Leistung und Anpassung wichtig und andere Werte wie Freiheit und Selbstverwirklichung unwichtig. Alle Werte, die wir in unserer Gesellschaft haben, finden wir in jedem Milieu. Nur: Diese Werte haben eine unterschiedliche inhaltliche Bedeutung für die Milieus, und sie stehen in einer anderen Wertearchitektur.



KNA: Wie sieht es da mit Glaube, Religion, Spiritualität aus?

Wippermann: Die spielen in allen Milieus eine wichtige Rolle. Doch die Fragen, die in dem Zusammenhang gestellt werden, unterscheiden sich deutlich - ebenso die Zufriedenheit mit den Antworten.



KNA: Zum Beispiel?

Wippermann: Ein Milieu wie die Traditionellen hat ein Verständnis von Kirche als Volkskirche, da sind die Glaubenswahrheiten einfach und fertig vorgegeben. Ein anderes Milieu wie die Expeditiven möchte gar keine fertigen Antworten, sondern möchte sich selbst an der Formulierung, an der Findung dieser Antworten beteiligen. Und es ist schon eine Frage, die wir uns stellen müssen, ob das nicht sehr viel christlicher, katholischer ist, den Heiligen Geist auch immer wieder wirken zu lassen, als den Heiligen Geist einmal in eine fertige Form fest eingegossen immer nur weiter zu tragen.



KNA: Wird das nach Ihrer Beobachtung in der katholischen Kirche auch so gesehen?

Wippermann: Ich denke, sie tut sich da schwer. Sicher nicht zuletzt deshalb erreicht sie auch primär traditionelle und konservative Milieus, andere Milieus hingegen oft nur noch ausschnitthaft oder gar nicht mit ihren Angeboten und ihrer kommunikativen Stilistik. Problematisch finde ich hier Tendenzen, sich vor allem auf die Kernklientel zu konzentrieren, die ohnehin treu zur Institution Kirche und ihren Botschaften steht.



KNA: Viele sehen diese Tendenz ja auch in einigen Worten von Papst Benedikt XVI. bei seinem Deutschlandbesuch. Wie bewerten Sie das?

Wippermann: Man kann einiges davon schon als Zielgruppenformulierung ansehen: Wir orientieren uns an den Menschen, bei denen unsere Botschaften in der Weise ankommen, wie wir sie formuliert haben.

Aber ich denke, wenn Kirche tatsächlich Kirche für die Menschen sein will, kann sie nicht kategorisch sagen, ich konzentriere mich auf ein bestimmtes Segment, von dem wir wissen, dass es nach und nach immer kleiner wird. Denn dann droht Kirche tatsächlich zu einer Institution von immer weniger Eingeweihten in einer immer kleineren Nische zu werden.



KNA: Was wäre für Sie die Alternative? Ganz neue Wege in Seelsorge und Verkündigung? Vorstöße in Milieus, die vielen haupt- und ehrenamtlich engagierten Katholiken auf den ersten Blick eher fremd sind - nicht zuletzt aufgrund der eigenen Biografie? Kein leichter Weg, oder?

Wippermann: Sicher. Aber wenn wir feststellen, dass die Menschen in vielen modernen Milieus mit den Antworten, die Kirche im Moment formuliert, nichts anfangen können, dass ihnen das bei ihren Sinnfragen nichts hilft, dann stellt sich doch die grundsätzliche Frage: Sind die Fragen der Menschen falsch? Oder sind die Antworten, die Kirche im Moment gibt und in den letzten 10, 20, 50, 100 Jahren gegeben hat, heute noch für alle Menschen die richtigen? Das bedeutet nicht, dass es den theologischen Kern aufzugeben oder substanziell zu verändern gelte - ganz im Gegenteil muss die biblische frohe Botschaft das Zentrum bleiben und ist Identität von Christen. Aber es kommt darauf an, wie man die zentrale Botschaft der katholischen Kirche an die Menschen bringt und ob die Botschaften nicht auch unmittelbare - positive - Reaktionen auf die Orientierungen und Fragen der Menschen sein müssen: Kirche in der Gegenwart eben. Das betrifft die Semantik der Botschaft, aber ebenso ihre Stilistik und auch Ästhetik. Darin sehe ich die eine notwendige und große Herausforderung!



Das Interview führte Gottfried Bohl.



Hinweis: Carsten Wippermann: "Milieus in Bewegung - Werte, Sinn, Religion und Ästhetik in Deutschland", Echter Verlag, 227 Seiten, 48 Euro.