BDKJ-Bundespräses Rapp über Auslöser von Jugendgewalt

Entladene Frustration

Der Bund der Katholischen Jugend will die Plünderungen und Gewalt in Großbritannien nicht verharmlosen, aber fordert verstärkt die Ursachen der Krawalle in Blick zu nehmen. Verantwortliche und Gesellschaft hätten über Jahre hinweg aufgestaute Probleme nicht wahrgenommen, sagt BDKJ-Bundespräses Pfarrer Simon Rapp im domradio.de-Interview.

 (DR)

domradio.de: Ist Armut, Perspektivlosigkeit oder Arbeitslosigkeit ein Grund, um ganze Straßenzüge zu verwüsten?

Pfarrer Rapp: Ich würde nicht sagen, dass das ein Grund dafür ist, aber es scheint eine der Ursachen für das zu sein, was wir jetzt gerade in Großbritannien erleben, was wir aber in den vergangenen Jahren aber auch in anderen europäischen Ländern erleben mussten. Ich erinnere nur an Paris. Junge Menschen, deren Situation nicht wahrgenommen wird, die vor Perspektivlosigkeit stehen. Sie wissen nicht, ob sie aus einem Armutsteufelskreis herauskommen können, weil ihnen auch von der Gesellschaft keine Perspektiven angeboten werden. Sie sind irgendwann in einem Frustrationsstadium, das sich an einer Stelle entlädt. In London scheint das jetzt genauso weit gewesen zu sein.  



domradio.de: An der US-Ostküste wurden ähnliche Phänomene jetzt damit unterbunden, indem man Ausgangssperren für unter 18-Jährige eingerichtet hat. Ist das Ihrer Meinung nach eine geeignete Maßnahme?

Pfarrer Rapp: Ich würde mal sagen, das ist ein Wegsperren und Wegschauen vor den eigentlichen Gründen von perspektivloser Jugend heutzutage.



domradio.de: Ist es nicht nötig, ein Zeichen zu setzen, dass es nicht für jede Art der Entgleisung, die auf Kosten der Gesellschaft geht, auch eine gute Ausrede geben kann?

Pfarrer Rapp: Ich möchte es nicht entschuldigen, was in London oder in anderen Städten passiert ist. Ich möchte auch nicht verharmlosen, was dort ausgebrochen ist. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass man auf die tieferen Ursachen erst einmal blickt. Klar, wer Gewalttaten begangen hat, gehört verurteilt dafür, das darf nicht der Stil sein. Andererseits muss man aber auch sagen, dass die Probleme, die sich dort über Jahre und Jahrzehnte aufgestaut haben, offensichtlich von den Verantwortlichen und auch von der Gesellschaft nicht wahrgenommen wurden, sondern dass weggeschaut wurde. Jetzt werden sie auf einen Schlag wahrgenommen… Erst in dem Moment als wirklich Einkommen und Gebäude in Brand gesteckt werden, wo sichtbar ist, dort gibt es ein gesellschaftliches und soziales Problem.



domradio.de: Was da bei den Ausschreitungen in Großbritannien passiert, das ist eine Mischung aus Spaß an Gewalt, Gier, indem man sich an Plünderungen beteiligt und auch verlorengegangene Moral.  Woher kommt dieser Verlust an Moral?

Pfarrer Rapp: Der BDKJ hatte im letzten Jahr mit einigen Kooperationspartnern im Rahmen unserer Aktion Joseftag das Thema verlorene Jugendliche. Man muss darauf schauen, dass es tatsächlich junge Menschen gibt, die in unserer Gesellschaft als verloren gelten, die einfach nicht mehr wahrgenommen werden, deren Situation, deren Perspektivlosigkeit, deren mangelnde Bildungschancen, deren Teufelskreis von Armut und Bildungsarmut nicht wahrgenommen werden. Wir haben im letzten Jahr versucht, darauf aufmerksam zu machen und haben wahrgenommen, dass viele, die wir darauf angesprochen haben, das nicht so sehen. Den jungen Menschen kann man nicht zuerst den Vorwurf machen, dass sie morallos handeln, wenn ihre Hilferufe nicht gehört werden. Dass sie einer gleichaltrigen Gruppe gegenüberstehen, die sich alles leisten kann, während sie selber sich nichts leisten können, keine Gesundheitsvorsorge, keine ausreichende Ernährung. Dann macht sich das irgendwann deutlich. Ich wäre vorsichtig, zuerst von Moral gegenüber diesen Jugendlichen zu reden, bevor wir nicht erkundet haben, was war der tatsächliche Auslöser und was ist die Situation, die die jungen Menschen dort hingetrieben hat. Aber ich habe auch wahrgenommen, dass das gerade in den letzten Nächten in London auch ein Sport wurde, zu Plünderungen zu gehen. Das ist nochmal ein anderes Phänomen, das man daraufhin noch einmal extra untersuchen müsste.



domradio.de: Sie fordern als Prävention gegen Jugendarmut eine ganze Reihe an Sozialmaßnahmen: Armutsfeste Bedarfssätze, kostenlose Bildungsangebote und ein Recht auf Ausbildung. Fördern ist gut, aber muss man in diesem Sozialstaat nicht auch mehr fordern und jungen Menschen klar machen, dass sie ihr eigenes Schicksal auch mitgestalten?

Pfarrer Rapp: Es sind oft junge Menschen betroffen, die bisher nicht unbedingt den Zugang hatten zu diesen Förderungsmöglichkeiten und deswegen diese auch gar nicht wahrgenommen haben. Man nimmt in Statistiken auch wahr, dass Bildungsarmut und Armut überhaupt, vererbt wird in unserem Land. Verschiedenste Bildungsstudien haben darauf immer wieder hingewiesen. Es geht tatsächlich um eine konkrete Inblicknahme dieser Situation von jungen Menschen. Es gibt eine große Mehrheit von Jugendlichen, jungen Erwachsenen, denen sicherlich einige Zukunftschancen offen stehen, aber es gibt auch eine nicht zu verachtende Minderheit, denen diese Perspektiven für ihr Leben aufgrund mangelnder Bildung, aufgrund mangelnder Anreize zur Bildung, aufgrund mangelnder Möglichkeiten dann auch in Ausbildung, in Arbeit zu kommen, einfach nicht gegeben ist. Deswegen sagen wir, hier müssen wir nicht nur junge Menschen fordern, sondern wir müssen zuallererst unsere Förderungsmaßnahmen überprüfen, ob die, die wir anbieten, wirklich sicher sind.