Katholische Jugend warnt vor sozialem Sprengstoff in Deutschland

Arm, arbeitslos und perspektivlos

Kriminelle Ausschreitungen wie in England sind nach Auffassung von Experten und Politikern in Deutschland nicht zu befürchten. Dennoch warnt der Bund der Katholischen Jugend (BDKJ) angesichts der Krawalle, auch hier gebe es genügend sozialen Sprengstoff. Bis zu zwei Millionen Jugendliche und junge Erwachsene seien arm, arbeitslos und perspektivlos.

 (DR)

Mehr Einsatz im Kampf gegen Jugendarmut

Daher müssten die Krawalle in England "Signalfeuer im Kampf gegen die Armut" sein. Die Gewalt in England würde auch aus Frust und Resignation einer abgehängten Generation resultieren, hieß es weiter. "Wir wollen keine Angst schüren, denn in Deutschland gibt es derzeit keine sichtbar hohe Zahl gewaltbereiter Jugendlicher", sagte BDKJ-Bundespräses Simon Rapp. Doch wenn dies so bleiben solle, müsse die deutsche Gesellschaft jetzt etwas tun und mehr Einsatz im Kampf gegen die Jugendarmut zeigen.



Jugendliche müssten von den Sparbemühungen der Bundesregierung ausgeschlossen bleiben, fordern die katholischen Jugendverbände. "Die junge Generation muss morgen schon für die heutigen Staatsschulden bezahlen, deshalb darf die Gesellschaft ihr nicht noch mehr aufbürden", erklärte Rapp. Der BDKJ verlangt die Einführung eines Kinder- und Jugendgrundeinkommens als ersten Schritt hin zu einem Grundeinkommen für alle Bevölkerungsgruppen. Außerdem müsse es armutsfeste Bedarfssätze, kostenlose Bildungsangebote und ein Recht auf Ausbildung geben, hieß es.



Innenministerium sieht keine Anzeichen für Krawalle in Deutschland

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sieht derzeit keine Anzeichen dafür, dass es in deutschen Großstädten zu ähnlichen Jugendkrawallen kommen kann. Die soziale Integration in Deutschland sei in den vergangenen Jahren sehr gut vorangekommen, sagte der Minister der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Mittwochsausgabe). "Solche gesellschaftlichen Spannungen wie aktuell in England oder in anderen europäischen Ländern haben wir glücklicherweise derzeit nicht", sagte der Minister. In Deutschland herrsche Konsens darüber, dass Gewalt gegen unbeteiligte Personen kein Mittel sei, mit dem man seine Ansichten durchsetzen dürfe.



SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz sagte, er halte eine Eskalation wie in Großbritannien hierzulande für eher unwahrscheinlich. "Wir haben eine bessere Absicherung für sozial Schwache und nicht so verarmte Stadtviertel wie Großbritannien", sagte Wiefelspütz der "Bild"-Zeitung. Dennoch dürfe man die Gefahr sozialer Unruhen nicht unterschätzen.



Polizeigewerkschaft fordert mehr Personal und Technik

Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) verlangte am Mittwoch mehr deutsche Ordnungshüter mit besserer Ausrüstung. Der DPolG-Vorsitzende Rainer Wendt sagte der "Bild"-Zeitung, in der Bundesrepublik gebe es eine ähnlich explosive Mischung wie in Großbritannien. "Die Ausschreitungen sind das Ergebnis von krimineller Energie, Verachtung gegenüber dem Staat und sozialer Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsschichten", sagte er. Insbesondere in Großstädten wie Hamburg und Berlin könnten aus nichtigen Anlässen rasch Brennpunkte entstehen, die nur schwer in den Griff zu bekommen seien. Als Beispiel verwies er auf die Krawalle rund um den 1. Mai. Er forderte mehr Personal und bessere Technik, um soziale Netzwerke und andere Kommunikationsmittel von Randalierern besser überwachen zu können.



Senator Körting verweist auf Bereitschaftspolizei

Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) sagte, falls es doch zu Ausschreitungen kommen sollte, sei seine Stadt gut gerüstet. Körting sagte der Düsseldorfer "Rheinischen Post" mit Blick auf Großbritannien: "Wir hoffen, dass wir nicht in solch eine Situation kommen." Sollte es jedoch in Berlin ähnliche Krawalle wie in englischen Städten geben, könne die Polizei der Bundeshauptstadt schnell durch die Bereitschaftspolizeien der anderen Bundesländer und des Bundes verstärkt werden. Die Bundesrepublik habe eine hohe Polizeidichte.



Der Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, sagte der Hannoverschen "Neuen Presse" (Mittwochausgabe): "England war schon immer ein Land der scharfen sozialen Gegensätze. Das hat sich durch Einwanderung, schlechte Sozial- und Bildungspolitik weiterentwickelt." Der britischen Regierung falle zu den Jugendkrawallen jetzt nur die Parole "Härte. Härte. Härte" ein. "Damit wird sie die sozialen Probleme nicht in den Griff kriegen", sagte er.



Der Jugendforscher Albert Scherr sieht in den gewalttätigen Krawallen der britischen Jugendlichen eine Folge sozialer Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit. In Deutschland sei ein solches Szenario nicht zu befürchten, sagte der Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg am Dienstagabend im MDR-Fernsehen. In Deutschland gebe es im Unterschied zu England und Frankreich noch starke sozialstaatliche Strukturen, sagte Scherr. Deshalb entstünden "keine Situationen der Ghettoisierung und keine Situationen, in denen eine große Zahl von jungen Menschen das Gefühl von Randständigkeit und Perspektivlosigkeit hat", sagte der Jugendforscher. "Wenn man in Deutschland ähnliche Entwicklungen vermeiden will, sollte man sozialstaatliche Strukturen nicht weiter abbauen, sondern sie wieder ausbauen und stärken, um die Integrationsprozesse in Bildungssysteme und den Arbeitsmarkt möglich zu machen", betonte der Wissenschaftler.



Anglikanische Kirche von England ruft zu Gebet für Frieden auf

Großbritannien hat derweil die vierte Krawallnacht in Folge mit Straßenschlachten und brennenden Häusern erlebt. In der Hauptstadt London blieb es relativ ruhig. Brennpunkt waren die Städte Manchester, Liverpool und Birmingham. Ein einer Tankstelle in der Innenstadt von Birmingham wurden drei Männer mit einem Auto totgefahren. Kurz darauf sei ein verdächtiger Autofahrer festgenommen worden, hieß es von der Polizei.



Angesichts der andauernden Krawalle in Großbritannien ruft die anglikanische Kirche von England zu Friedensgebeten auf.

"Wir bitten um Ruhe in Straßen und Städten", damit die Menschen in Sicherheit und Frieden leben könnten, heißt es in dem Gebet, das die Kirche am Dienstag in London veröffentlichte. Die am Wochenende ausgebrochenen gewaltsamen Ausschreitungen in London haben sich inzwischen auf andere britische Städte ausgeweitet. In die Fürbitte eingeschlossen sind diejenigen, die sich für ein Ende der Spannungen sowie für die Wahrung von Recht und Ordnung einsetzen.



Der Kriminologe Christian Pfeiffer hat die Reaktionen der britischen Regierung auf die Jugendkrawalle als beschämend bezeichnet. Mit Härte werde sie die sozialen Probleme nicht in den Griff bekommen, sagte er der "Neuen Presse" (Mittwochsausgabe) in Hannover. Die Einschnitte im Sozialen wie bei Bildung, Justiz und Polizei seien in den vergangenen Jahren massiv vorangetrieben worden. England sei schon immer ein Land der sozialen Gegensätze gewesen: "Großbritannien hat eine ausgeprägte Gewinner-Verlier-Kultur", sagte Pfeiffer. Besonders in den Großstädten hätten sich Gangs gebildet, die nicht mehr hinreichend unter Polizeikontrolle stünden. Dazu komme, dass die Polizei durch massive Personalkürzungen sehr geschwächt sei. Nach Ankündigung der Regierung sollen weitere 15.000 Polizeistellen gestrichen werden. "Das Risiko des Erwischtwerdens ist deswegen niedriger als bei uns, die Polizei ist nicht überall Herr der Lage, sie verwaltet Einbrüche, statt sie aufzuklären."



Frust über eigene Lebenslage

Während die Jugendgewalt in Deutschland sinke, steige sie in England. Der Zorn der jungen Briten sei der Frust über ihre eigene Lebenslage. Die hohe Gewaltbereitschaft sei auch an den Hooligans zu beobachten, die die brutalsten in ganz Europa seien. In den Gewaltorgien wird Pfeiffer zufolge eine tiefgewachsene Unterschichtsstruktur deutlich.



Der Kriminologe sieht auch einen Zusammenhang mit den Jugendaufständen in den arabischen Ländern. Durch Verabredungen im Internet sei es für frustrierte Jugendliche noch nie so einfach wie heute gewesen, die Polizei an der Nase herumzuführen. Während die Proteste in Nordafrika und Spanien durch soziale Missstände politisch motiviert seien, gebe es in England zum großen Teil kriminelle Strukturen: "In England wird sich übers Internet zu Plünderungen verabredet, in Nordafrika zu politischen Aufständen."