Eine Analyse der Jugend-Ausschreitungen von England

"Da ist sehr viel im Argen"

Brennende Häuser und Autos, geplünderte Läden - die Krawalle von London dehnt sich weiter aus. Der deutsche Radio-Vatikan-Chefredakteur Bernd Hagenkord hat lange in England gelebt und war Jugendseelsorger in Deutschland. Im domradio.de-Interview analysiert er die Lage vor Ort.

 (DR)

domradio.de: Sie sind zurzeit in London. Wie ist die Lage im Moment?

Hagenkord: Tagsüber ist es ja immer relativ ruhig. Und man ist sich nicht sicher, wie man mit dieser Ruhe umgehen soll. Man ist gespannt, ob es eine vierte Nacht mit Randalen geben wird.



domradio.de: Auslöser der Gewalt war der Tod eines 29-Jährigen, der von Polizisten erschossen wurde. Aber die Gründe liegen doch gewiss woanders. Können Sie uns sagen wo?

Hagenkord: Das war sicherlich der Funke, der in den Strohballen geflogen ist. Was sich hier zeigt, ist vergleichbar mit dem, was wir 2005 in Frankreich gesehen haben: Eine ganze Generation verschafft sich Luft. Da ist viel Wut, da ist viel Gefühl von Ungerechtigkeit und nicht beteiligt zu werden, keine Chancen zu haben. Die neue Regierung kürt dann auch noch die Chancen, die es im Augenblick gibt. Und dann nimmt man sich, was man kriegen kann. Es hat als Protest gegen den Tod des 29-Jährigen begonnen, dann war es ein Protest gegen die Polizei, mittlerweile ist es nur noch rein kriminelles Plündern. Ganze Straßenzüge werden systematisch leergeräumt. Da wird an einer Stelle ein Haus abgefackelt, damit die Polizei und die Feuerwehr was zu tun haben. Das hat nichts mehr mit Protesten zu tun, das ist einfach nur reine Gier - aus dem Gefühl heraus, sonst zu nichts zu kommen. Da ist sehr viel im Argen. Und bevor man das alles aufgeräumt hat, wird man sich auch Gedanken dazu machen müssen, wie man weiter mit den jungen Menschen umgeht.



domradio.de: Premier Cameron und sein Stellvertreter Clegg haben ihren Urlaub unterbrochen. Was tut man von offizieller Seite, um die Gewalt zu stoppen?

Hagenkord: Zunächst einmal muss man die Polizei und die Feuerwehr koordinieren - man muss mehr Polizei nach London holen. Viele aktuell-politische Maßnahmen wird man gar nicht ergreifen können. Man muss die Lage unter Kontrolle bekommen und dann schauen, wie man mit den Ereignissen umgeht. Man wird sich überlegen müssen, wie man beispielsweise mit der Integrationsfrage umgeht. Und das ist eine längerfristige Frage. Das Ganze hat es ja schon mal vor 30 Jahren gegeben, das ist ja nichts Neues. Ich habe selber drei Jahre lang in Brixton gelebt, ich kenne viele Leute dort. Und die sagen mir: das gleicht sich doch ziemlich. Und wenn 30 Jahre später noch einmal so etwas passiert, kann man sich schon die Frage stellen: Was ist in der Zwischenzeit eigentlich passiert? Hat die Politik in der Zwischenzeit nichts getan? Da wird man ganz genau analysieren müssen, was da falsch gemacht wurde.



domradio.de: Sie haben vor Kurzem von einer "dünnen Zivilisationsdecke" gesprochen, was England betrifft. Was verstehen Sie darunter?

Hagenkord: Wenn man durch London geht und das Funktionieren dieser Großstadt sieht. Und dann sieht, dass plötzlich aus jungen Menschen Randalierer werden. Niemand hat mehr Hemmungen. Die Zivilisationshemmungen, die Menschen sonst haben, brechen völlig weg. Das ist schon sehr bedenklich.



domradio.de: Was erwarten Sie für die nächsten Tage? Wird die Polizei die Lage bald in den Griff bekommen?

Hagenkord: Vermutlich schon in den nächsten Tagen. Interessant ist, wenn man die Zeitungen liest hier: Keiner der Kommentatoren wagt eine Prognose, wie lange es noch dauern wird.



Das Gespräch führte Christian Schlegel.