missio-Experte Oehring über die christlichen Irak-Flüchtlinge

"Alle wollen in den Westen"

Hunderttausende Christen sind in den vergangenen Jahren vor Terror und Extremismus im Irak geflohen. Mindestens 60.000 von ihnen blicken im Libanon, Syrien und Jordanien einer ungewissen Zukunft entgegen. Jüngst vor Ort war Otmar Oehring - der Nahost-Experte des katholischen Hilfswerks missio über Probleme und Hoffnungen der Menschen.

 (DR)

KNA: Herr Oehring, von den christlich-irakischen Flüchtlingen in Jordanien, Syrien und dem Libanon ist kaum noch die Rede. Hat sich die Lage etwa entspannt?

Oehring: Ganz und gar nicht. Auch Flüchtlinge, die schon vor Jahren aus dem Irak geflohen sind, leben weiter unter extrem harten Bedingungen. Viele Familien konnten nichts von ihrem Hab und Gut retten oder verkaufen und kamen buchstäblich mit leeren Händen. Notunterkünfte gibt es nicht, sondern nur den normalen Wohnungsmarkt. Durch den großen Andrang sind die Mieten in den Armenvierteln um bis zu 200 Prozent gestiegen. Das führt wiederum zu Spannungen mit der eingesessenen Bevölkerung.



KNA: Wovon leben denn die Menschen?

Oehring: Die meisten sind komplett auf fremde Hilfe angewiesen, weil ihnen die Aufnahmeländer keine Arbeitsgenehmigung erteilen. Etwas Hilfe kommt vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Zum Glück ist die Solidarität unter den Christen sehr groß, die Gemeinden helfen so gut es geht. Mancher wird auch von Angehörigen im westlichen Ausland unterstützt.



KNA: ...und hofft vermutlich, demnächst auch dorthin auszuwandern.

Oehring: Das ist der sehnliche Wunsch der christlichen Flüchtlinge. Eine Rückkehr in den Irak können sie sich nicht vorstellen. Viele haben dort schreckliche Dinge erlebt. Aber auch in den Nachbarländern sehen sie keine Zukunft. Jordanien ermöglicht jetzt immerhin den Schulbesuch der Flüchtlingskinder und hat die Gesundheitsversorgung verbessert. Aber eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis gibt es nur für die paar Christen, die genug Geld vorweisen können. Im Libanon aber ist die Lage wirklich dramatisch. Der Staat kümmert sich dort überhaupt nicht um die Menschen. Sie vegetieren buchstäblich dahin.



KNA: Dabei ist das Land doch stärker christlich geprägt als jedes andere in der Region, Christen haben viel Einfluss in der libanesischen Regierung.

Oehring: Das ist gerade das Problem. Die Muslime wollen unbedingt verhindern, dass die christliche Seite durch Aufenthaltsgenehmigungen oder Einbürgerung von Flüchtlingen die fortschreitende Islamisierung des Libanon aufhält. Im Libanon sitzen nicht nur die Christen aus dem Irak auf gepackten Koffern, sondern auch die einheimischen Maroniten und andere Christen. Der chaldäische Bischof von Beirut, den ich immer als sehr optimistisch erlebt habe, sagte mir dieses Mal: Die Kirchen hier werden immer weiter zusammenschrumpfen.



KNA: Sie haben auch mit Kirchenvertretern aus Syrien gesprochen, wo ebenfalls viele christliche Irakflüchtlinge Zuflucht gesucht haben.

Wie bewerten sie die aktuelle Lage im Land?

Oehring: Sehr gemischt. Alle wollen Reformen, aber die wenigsten Christen wünschen ein Ende des Assad-Regimes, das in religiösen Dingen relativ tolerant war und die Christen bewusst als Gegengewicht gegen die sunnitische Mehrheit eingesetzt hat. Jetzt geht bei ihnen die Angst um, dass die Muslimbrüder oder die noch radikaleren Salafisten nach einer Revolution an Einfluss gewinnen und den Hass auf die "Ungläubigen" schüren. Dann befürchten besonders die irakischen Christen, dass sich die Ereignisse wiederholen und sie zum zweiten Mal auf die Flucht gehen müssen.

Bisher gibt es aber in Syrien noch keine antichristliche Stimmungsmache.



KNA: Wie realistisch sind die Hoffnungen auf eine Aufnahme im Westen?

Oehring: Nicht sehr realistisch, schaut man sich die riesige Zahl der Ausreisewilligen an. Die klassischen Zielländer USA, Kanada und Australien haben ihre Aufnahmekontingente zuletzt immer mehr reduziert. Auch Europa nimmt kaum Leute auf. Vor zwei Jahren hatte die EU ja beschlossen, 10.000 irakische Christen hereinzulassen. Davon ist bisher nur gut die Hälfte in die EU gekommen.



KNA: Fühlen sich die Christen vom Westen im Stich gelassen?

Oehring: Das wäre zu viel gesagt. Die Bereitschaft der EU, wenigstens 10.000 aufzunehmen, wurde damals sehr dankbar wahrgenommen. Aber zuweilen herrscht Unverständnis, dass westliche Hilfsorganisationen Muslimen genauso helfen wie den Christen. "Nach all dem, was Muslime uns angetan haben?", heißt es dann. Das klingt nicht sehr christlich, ist aber menschlich wohl zu begreifen. Viele Christen sind einfach traumatisiert.

  

Das Gespräch führte Christoph Schmidt.