Wachsender Unmut in der SPD über Einigung mit Sarrazin

Berliner Erklärung

Der Druck auf die SPD-Spitze nimmt nach dem umstrittenen Ende des Parteiausschlussverfahrens gegen Thilo Sarrazin zu. Mit einer "Berliner Erklärung" machen Sozialdemokraten aus ganz Deutschland ihrem Unmut über die Einigung mit dem heftig kritisierten Bestsellerautor Luft.

 (DR)

Die Petition wurde allein von mehr als 100 Berliner Sozialdemokraten unterzeichnet, darunter mehrere Kreisvorsitzende. Dagegen verteidigte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles die Entscheidung. Der Berliner SPD-Landesvorstand wollte am Dienstag in einer Sondersitzung über die aktuelle Lage beraten.



Die Vertreter der Bundes- und Landespartei sowie des Kreisverbandes Charlottenburg-Wilmersdorf, in dem Sarrazin organisiert ist, hatten in der vergangenen Woche ihre Ausschlussanträge zurückgezogen. Vorausgegangen war eine Erklärung des Ex-Senators, wonach er keine sozialdemokratischen Grundsätze verletzen oder Migranten diskriminieren wolle. Hintergrund waren provokante Thesen Sarrazins zur Integration in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab".



Appell zum Bleiben

Die Kritiker entschuldigen sich ihrer Erklärung bei den Enttäuschten über den "Zickzackkurs" der Partei und appellieren an die unzufriedenen SPD-Mitglieder, die Partei nicht zu verlassen: "Jetzt gerade nicht! Wir brauchen Euch! Die Partei braucht Euer politisches Rückgrat!".



Aus Protest gegen das Ende des Verfahrens hat unter anderen der Gründer des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten, Sergey Lagodinsky, seinen Parteiaustritt erklärt.



In "gemeinsamer Verantwortung für unsere Partei" stellen die Unterzeichner weiter fest, dass die SPD die "Partei des sozialen Aufstiegs" bleibe. "Wir geben nicht große Teile der Bevölkerung verloren, sondern ringen um Konzepte für gerechte Teilhabe." Elitärer Dünkel, Ausgrenzung von Gruppen - mit oder ohne Migrationshintergrund -, menschenverachtendes Gerede oder gar rassistischer Habitus hätten in ihrer Mitte keinen Platz.



SPD-Grundwerte nicht beliebig

Die Unterzeichner betonen, dass sie die Meinungsfreiheit verteidigten. Die SPD sei jedoch eine politische Wertevereinigung, die durch ihr Grundwertekorsett einen äußersten Meinungsrahmen vorgebe, der "nicht verhandelbar" sei. Die politische Verantwortung und der Gestaltungsanspruch der SPD endeten nicht an irgendeinem Wahltag. In Berlin wird am 18. September ein neues Abgeordnetenhaus gewählt.



Die SPD-Grundwerte seien nicht beliebig und stünden nicht zur Disposition Einzelner, schreiben die Unterzeichner. Nachdem auf allen Parteiebenen Gremienbeschlüsse zum Parteiordnungsverfahren vorlagen, wäre es politisch angezeigt gewesen, "diese Gremien vor einer Verfahrensbeendigung ohne Sachentscheidung zu befassen".



Auch andere Sozialdemokraten befürchten negative Auswirkungen auf die SPD. "Unsere mühselig aufgebaute Verankerung in der Einwanderer-Community droht Schaden zu nehmen", sagte Baden-Württembergs SPD-Landeschef Nils Schmid. Der Berliner SPD-Landeschef Michael Müller erklärte, er hätte sich "ein klares und eindeutiges Urteil gewünscht". Der SPD-Bundestagsabgeordnete Ernst Dieter Rossmann warnte, in der SPD dürfe "Sarrazin keine Narrenfreiheit genießen".



Nahles hält Einigung für "klugen Weg"

Nach Darstellung von Nahles hat Sarrazin hingegen "seine sozialdarwinistischen Äußerungen relativiert, Missverständnisse klargestellt und sich von diskriminierenden Äußerungen distanziert". Er habe eine "weitreichende Erklärung" abgegeben und sich damit "wieder auf den Boden der Meinungsfreiheit innerhalb der Partei begeben".



Man könne nicht einfach jemanden aus der Partei werfen, "auch nicht, wenn er sich noch so kontrovers verhält", sagte Nahles weiter. Mit der Erklärung Sarrazins sei "ein kluger Weg beschritten worden". Es hätte wahrscheinlich keinen Weg gegeben, der alle zufriedenstellt, fügte Nahles mit Blick auf den Ausgang des Schiedsverfahrens hinzu. Sarrazin selbst bewertete die Entscheidung als "Sieg der Vernunft".