Kölner Maler und Musiker Niedecken wird 60 Jahre alt

"Religion stellt die Leitplanken"

"Mit dem Alter wird man gelassener", meint BAP-Chef Wolfgang Niedecken und kokettiert gleichzeitig mit Umstand, dass er heute 60 Jahre alt wird. Doch von Vorruhestand ist bei dem Kölner nichts zu merken. Eben hat er seine Autobiografie "Für 'ne Moment" vorgelegt. Gegenüber domradio.de spricht er auch über seinen Glauben.

Autor/in:
Markus Peters
 (DR)

domradio.de: Es gibt Sweet sixteen, jetzt Sie haben Sie Sweet sixty - immer noch sweet?

Wolfgang Niedecken: Jawohl, ich bin immer noch jemand, der voller romantischer Ideen steckt. Ich hab’ ja auch Glück gehabt: Ich habe ein Leben führen dürfen, mit dem, was ich gerne tue. Ich weiß nicht, wem ich dafür dankbar sein soll, aber irgend jemandem bin ich da schon dankbar für. Als ich noch auf dem Gymnasium war oder anfing, Kunst zu studieren, wusste ich trotz aller Leidenschaft für Künstlerisches nicht, wovon ich dabei leben werde. Und das hat sich ja nun Gott sei Dank alles wunderbar ergeben. Sehr schön!



domradio.de: Ist es auch die Gnade der frühen Geburt, wenn man so will?

Niedecken: Es war schon leichter in diesen Jahren, Spinner zu sein, als heute. Ich glaube nicht, dass ich heute so gerne um die 20 wäre - das ist schon eine Zeit, in der man viel mehr ins Angepasstsein geschubst und gedrängt und gezwungen wird als damals. Heute ist es für einen Hauptschulabsolventen ja fast schon ein Ding der Unmöglichkeit, eine Lehrstelle zu finden. Da muss die Gesellschaft etwas dran tun. Das geht nicht.



domradio.de: Alles halb so wild, denn jetzt haben wir Japan, muss man da wohl sagen. Jetzt ist es schlimm.

Niedecken:  Zu allererst muss man zulassen, dass man mit den Menschen trauert. Man muss dieses Gefühl auch zulassen. Wenn wir direkt zur Tagesordnung übergehen und sagen: OK, jetzt hat da die Erde gebebt, ein Tsunami, soundso viel Tote, plus atomare Verseuchung, die auf uns zukommt, wo ist die Tagesordnung? Her damit! Ich glaube, dann mache wir einen Fehler. Wir sollten uns erstmal wirklich diesem Gefühl hingeben und es zulassen, mit den Menschen zu trauern. Sonst wird das eine sehr herzlose Angelegenheit und das bringt uns auch nicht weiter.



Und wenn wir das wirklich verinnerlicht haben, dann können wir auch mal überlegen: Was ist denn eigentlich aus Tschernobyl gelernt worden? Das ist 25 Jahre her - ich habe einen Sohn der wird 25, zur Tschernobyl-Zeit war der noch Säugling. Und in all dieser Zeit sind nicht die Konsequenzen gezogen worden, wie man mit dieser Technologie umgeht. Stattdessen gibt es einen Ausstieg aus dem Ausstieg. Das ist ja pervers wie nur was. Man hat die Gefahren längst erkannt, man weiß immer noch nicht, wohin mit dem Atommüll. Der strahlt 200.000 Jahre. Seit 200.000 Jahren gibt es den Homo sapiens. Und die meinen allen Ernstes, die könnten uns weiß machen, dass sie das über diese Zeitspanne alles kontrollieren werden, dass da keine Folgeschäden kommen. Das ist so was von pervers, überhaupt zu versuchen, uns das beizubringen. Es muss so schnell wie möglich aus diesem Irrweg ausgestiegen werden. So schnell, wie es geht. Es wird nicht von heute auf morgen gehen, aber es muss so schnell wie möglich gemacht werden, weil es ja nicht das einzige Problem ist, das wir auf der Welt haben. Aber es ist ein sehr vordringliches.



domradio.de: Da steht also auf der einen Seite, beherzt die Stimme zu erheben, bürgerschaftliches Engagement könnte jetzt in Zukunft auch eine wichtige Rolle spielen, damit nicht alles ins Vergessen gerät. Und doch spielt für Sie Demut auch eine Rolle.

Niedecken: Ja, wenn man viel in der Welt ’rumkommt und viel erlebt hat, viele Menschen kennengelernt hat, viele Kulturen, viele Länder, und sieht wie die Menschen da leben, dann sollten wir uns schon einmal bewusst sein, dass wir schon per Geburt "sechs Richtige" haben. Das ist vollkommen klar. Und wenn wir jammern, jammern wir auf hohem Niveau. Das ist ja auch Gott sei Dank durch, das wissen auch viele Menschen schon. Und wir sind innerhalb der Natur eben auch nur eine Winzigkeit. Man muss sich dieser Winzigkeit auch bewusst sein und dann trotzdem versuchen, möglichst alles unbeschadet zu lassen und für die Nachwelt zu erhalten. Das ist schon ganz viel auf einmal, aber man muss auch bei sich anfangen. Wir können unmöglich - ein stehender Spruch von mir - uns hinstellen und jammern über das Verschwinden des kleinen Möbelladens an der Ecke und haben zuhause die ganze Bude voll IKEA-Möbel stehen. Wir müssen schon bei uns selbst anfangen.



domradio.de: Ein Song auf Ihrer neuen CD heißt "Das ist das Leben als Autobahn", nicht als Achterbahn, sondern als Autobahn. Wie wichtig sind Umwege im Leben?

Niedecken:  Die ergeben sich. Also ich bin ja sehr flexibel an mein Leben herangegangen. Aus Fehlern lernen, das man das tun sollte, weiß jeder, man muss ja nicht zweimal aus demselben Grund ins Klo greifen. Und Umwege sind auch so etwas. Man merkt hinterher: An der Stelle hättest Du es auch schneller haben können. Aber bei dem Umweg kannst Du auch was lernen und diese Zeit nicht als verloren ansehen. Der nächste Umweg wird dann vielleicht auch nicht so groß sein.



domradio.de: Wenn wir noch ein wenig bei dem Autobahn-Bild bleiben: Der Mensch auf der Durchreise. Wo finden Sie Halt? Oder brauchen Sie keinen?

Niedecken:  Doch, doch. Also ich bin absoluter Familienmensch, wenn ich zuhause bei mir im Allerheiligsten sitze, d.h. im Arbeitszimmer, und kann auf den Rhein gucken, das ist fast meditativ. Das ist der einzige Trost im Winter, denn ich bin eigentlich ein Winterhasser, ich steh’ überhaut nicht auf Winter. Dass einzig Schöne ist, dann sind die Blätter unten und ich seh’ den Rhein in voller Breite. Und das zeigt mir natürlich auch, wie die Zeit vergeht, dass ich mich in diesem Fluss, im übertragenen Sinne, befinde und dass der immer noch in die gleiche Richtung fließt, das ist auch sehr tröstlich. Und da ist meine Familie, ich bin immer da zuhause, wo meine Familie ist, auch wenn ich nicht immer in der Familie aktiv zugange bin. Ich bin in der Familie eher so etwas wie eine Begleiterscheinung.



domradio.de: So ein bisschen, wie Sie es auch in ihrer Kindheit erleben mussten: Ihre Eltern waren sehr mit dem Laden beschäftigt?

Niedecken:  Wir sind schon ein Clan zuhause, eine Etage unter mir boxt immer der Papst, da sind immer ohne Ende Freunde und Freundinnen meiner Töchter da, unsere Freunde sind da, teilweise bekomme ich gar nicht mit, wer da war, weil ich oben noch zu tun hatte. "Der Soundso war eben da, aber wir wollten Dich nicht stören, Du warst gerade so beschäftigt." Na, wunderbar. Aber es ist ein sehr gutes Gefühl, dass die da waren. Und es ist auch ein gutes Gefühl, dass sie alle da sind. Wenn ich weiß, alle sind zusammen, dann lässt auch mein Schäferhundtrieb ein bisschen nach.  



domradio.de: Was ist das?

Niedecken: Ja, ich bin so "rudelzusammenfassend": Wenn sie alle da sind, geht’s mir gut, dann passen ich zwar ein bisschen auf, dass da nichts schiefgeht, aber bin ich eigentlich erstmal beruhigt.



domradio.de: Sie haben gesagt: "Da boxt der Papst". Ich weiß, Sie haben keine guten Erfahrungen mit Kirche gemacht. Das hat sich etwas relativiert durch Ihre vielen Reisen nach Afrika, wo Sie Menschen getroffen haben, die im katholischen Kontext arbeiteten. Aber brauchen wir die Religion oder die Kirchen noch?

Niedecken:  Religion stellt die Leitplanken für Menschen in allen Kulturen, in allen Ländern zur Verfügung, wie man sich innerhalb einer Gesellschaft verhalten sollte. Ethische Voraussetzungen und Regeln. "Liebe Deinen Nächsten" ist die Grundregel.



domradio.de: "Lasst uns auf das Salz der Erde trinken." Das lesen wir zu Beginn Ihrer Autobiografie. Wer ist das Salz der Erde?

Niedecken: Das sind die einfachen Leute, die dafür sorgen müssen, dass ihre Kinder satt werden, dass ihre Häuser nicht abbrennen, die mit ihrer Hände Arbeit ein Leben führen müssen, das vielleicht schöner sein könnte. Es gibt ja diese Lied von den Rolling Stones Salt of the Earth, das ist ja gleichzeitig ein Trinklied und ein Gebet. Das muss man sich mal vorstellen. Das geht bei den Rolling Stones.



domradio.de: Was wünschen Sie Ihren Kindern für die Zukunft?

Niedecken: Eine möglichst gut erhaltene Welt, in der sie alle ihre Träume ausleben können, die Möglichkeit, genauso glücklich zu werden, wie ich es jetzt innerhalb dieser 60 Jahre sein konnte. Können auch noch ein paar mehr werden.



Interview: Birgitt Schippers