Entwicklungshelfer haben in Afghanistan kaum noch Chancen

"Bewusste Eskalation von beiden Seiten"

Vor den heutigen Beratungen des Bundestages über das neue Afghanistan-Mandat für die Bundeswehr beklagt Afghanistan-Experte Conrad Schetter von der Universität Bonn die militärische Ausrichtung der Strategie von NATO und Bundeswehr. Eine sinnvolle Entwicklungsarbeit sei nicht mehr möglich.

 (DR)

Nach Ansicht des Schetters trägt das militärische Engagement der NATO nur bedingt zu einer Stabilisierung am Hindukusch bei. "Die Eskalation der Gewalt lässt inzwischen kaum noch eine sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit vor Ort zu", sagte der Wissenschaftler des Zentrums für Entwicklungsforschung der Universität Bonn im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dapd. Während die Aufständischen an Boden gewännen, setzten die westlichen Streitkräfte zunehmend auf gewaltsame Konfrontation. "Diese bewusste Eskalation von beiden Seiten hat die Sicherheitslage dermaßen verschlechtert, dass Entwicklungshelfer kaum noch Projekte vor Ort besuchen können", sagte Schetter.--

Allerdings müsse lokal differenziert werden, sagte Schetter. So gebe es nach wie vor in einigen Orten und Regionen "ruhige Häfen", in denen sich noch positive Impulse setzen ließen. Dies gelte etwa in Zentralafghanistan oder rund um den deutschen Truppenschwerpunkt Masar-i-Scharif. Insgesamt jedoch habe die internationale Gemeinschaft ihre vor acht Jahren gefassten Entwicklungsziele wie den zivilen Aufbau, Demokratie und Modernisierung weitgehend aufgegeben. "Das betrifft selbst den Gedanken der Staatsbildung, der vor drei Jahren noch im Vordergrund stand", resümierte Schetter. Inzwischen gehe es nur noch darum, Stabilität im Land zu schaffen. --

Über Jahre falsche Prioritäten gesetzt --
Nach Ansicht des Forschers hat der Westen über Jahre hinweg falsche Prioritäten gesetzt. "Selbst die Bundeswehr hat sich lange kaum darum gekümmert, was außerhalb der Tore des eigenen Wiederaufbauteams vor sich geht", sagte er. Erst vor eineinhalb Jahren habe man zaghaft begonnen, den gesellschaftlichen Kontext auszuloten. "Die internationale internationale Gemeinschaft ging in ihrer Ignoranz immer vom Konzept eines überlegenen westlichen Lebenstils aus, den es durchzusetzen galt", kritisierte Schetter. Dabei sei nicht bedacht worden, dass die afghanische Kultur einen Eigenwert habe, an dem die Bevölkerung auch hängt. "Das hat sich mittlerweile zwar geändert, aber ich fürchte, dass es zu lange gedauert hat", sagte Schetter. --

Er nannte es einen Kapitalfehler, dass stets nur über Geld gesprochen werde. Die von Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) zur Verfügung gestellten Aufbaumittel in Millionenhöhe versickerten oft unkontrolliert. "Das Problem ist, dass es in Afghanistan keine geeigneten Strukturen gibt, damit diese Gelder überhaupt in Entwicklungsprojekte gelangen", sagte Schetter. Da die Entwicklungsorganisationen aber unter großem Druck stünden, die bereitgestellten Mittel auch auszugeben, würden bei der Verwendung häufig beide Augen zugedrückt. "Dadurch werden Korruption und Klientelismus letztlich weiter angekurbelt", sagte Schetter.

"Einen Afghanen kann man höchstens mieten, nicht kaufen" --
Den vom Westen zunächst als Heilsbringer gefeierten und später kritisierten afghanischen Präsidenten Hamid Karsai will Schetter nicht zum Sündenbock machen. "Er ist in gewisser Weise einfach ein Kind seiner Zeit und Gesellschaft", sagte Schetter. Die von Karsai geförderte Klientelpolitik und Korruption werde vermutlich auch von seinen Nachfolgern weitergeführt. "Wenn Sie Minister in Afghanistan werden, haben Sie am nächsten Tag über 100 Familienmitglieder auf der Türschwelle stehen, die nach Jobs fragen", schilderte Schetter. "Die müssen befriedigt werden, sonst verlieren Sie Ihr Gesicht." Dies seien Zwänge, denen man vor Ort ausgesetzt sei und die sich auch nicht vom einen auf den anderen Tag ändern ließen. --

Zwar will Schetter seine Hoffnung auf eine friedliche Zukunft nicht aufgeben. Allerdings täte es Afghanistan seiner Ansicht nach gut, "wenn etwas Dampf abgelassen würde und sich die Aufmerksamkeit auf andere Weltregionen richtet, damit das Land etwas zur Ruhe kommen kann". Gleichzeitig müsse der Bevölkerung klargemacht werden, dass die zahlreichen Projekte ihnen persönliche Vorteile brächten und nicht für einen anonymen Staat gemacht seien. Nur dann sieht Schetter eine realistische Chance, die Afghanen beim Wiederaufbau langfristig mit an Bord zu holen. Allein durch Geld ließen sich nachhaltige Strukturen dagegen nicht erkaufen: "Einen Afghanen kann man höchstens mieten, nicht kaufen."

Pax Christi drängt auf Beendigung des Afghanistan-Einsatzes
Die katholische Friedensbewegung Pax Christi hat Bundesregierung und Bundestag zur Beendigung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan gefordert. Der Einsatz sei gescheitert, da sich trotz der Militärpräsenz die Sicherheitslage nicht verbessert, sondern verschlechtert habe, sagte Pax Christi-Präsident Bischof Heinz Josef Algermissen in Berlin.  Algermissen kritisierte, der NATO-Einsatz, an dem Deutschland seit neun Jahren beteiligt ist, habe in der afghanischen Bevölkerung, unter Aufbauhelfern sowie unter den Kämpfenden viele Opfer gefordert. Angesichts der hohen Zahl von Kriegstoten bedeute die von der Bundesregierung geplante Fortsetzung der Kämpfe nichts anderes "als sehenden Auges für die Jahre 2011 bis 2014 weitere Todesopfer einzukalkulieren". Vorsichtigen UN-Schätzungen zufolge wären das jährlich 2.500 Menschen, so Algermissen. Mit Blick auf die zu erwartenden Folgen sei der Einsatz völkerrechtlich und ethisch nicht mehr zu rechtfertigen.