Deutschland und seine Muslime 2010

Wer gehört zu wem?

Es begann wie der übliche Aufreger im Sommerloch und wurde zum bislang heftigsten Schlagabtausch in der deutschen Islamdebatte. Der Streit um Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" bescherte der Diskussion um Deutschlands zweitgrößte Religion 2010 einen öffentlichen Stellenwert wie nie zuvor.

Autor/in:
Christoph Schmidt
 (DR)

Die Mehrheit der Bürger stimmte Sarrazins Kritik an muslimischer Einwanderung laut Umfragen in Vielem zu. Wortführer in Politik und Medien sahen einen publizistischen Sündenfall. Vor allem abwegige Thesen des Autors zur genetischen Veranlagung muslimischer Migranten sorgten für Empörung.



Allen voran drängte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf die Entlassung des Bundesbank-Vorstands - und erklärte "Multikulti" hiernach selbst für tot. Talkshows luden türkische Akademikerinnen oder geläuterte Gang-Mitglieder aus der dritten Migrantengeneration zum Talk. Bundespräsident Christian Wulff - als neues Staatsoberhaupt auf Profilsuche - provozierte mit der Pauschalaussage, der Islam gehöre zu Deutschland, die Frage nach deutscher Identität. CSU-Chef Horst Seehofer wurde zur lautesten Gegenstimme; viele bemühten die konstruiert wirkende Kombination von den "christlich-jüdischen" Wurzeln abendländischer Kultur.



Doch sie alle trugen wenig zur drängenden Frage bei, wie Deutschland seine sozialen und wirtschaftlichen Probleme mit vielen muslimischen Zuwanderern in den Griff bekommt. Selten hat eine so breit und leidenschaftlich geführte Kontroverse zu so mageren und vorhersehbaren Ergebnissen geführt wie die "Affäre Sarrazin".



Halbwegs neu war allenfalls die nun offen ausgesprochene Erkenntnis, dass es neben der alltäglichen Diskriminierung von Muslimen inzwischen auch eine verbreitete "Inländerfeindlichkeit" an Schulen mit muslimischer Mehrheit gibt. Die Bezeichnung "Christ" gilt dort oft als gängiges Schimpfwort für "herkunftsdeutsche" Außenseiter.



Darin zeigt sich nicht nur der Frust beruflich chancenloser Migrantenkinder, sondern ein Islamverständnis aggressiver Abgrenzung, das in einigen Milieus verwurzelt ist. Das legte auch eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen nahe, wonach die Gewaltbereitschaft muslimischer Jugendlicher, die sich als streng gläubig bezeichnen, besonders hoch ist.



Gerade auf religiösem Gebiet brachte das Jahr aber auch große Fortschritte. Auf Empfehlung des Deutschen Wissenschaftsrates beschloss die Bundesregierung den Aufbau theologisch-islamischer Lehrstätten an den Unis Tübingen, Münster und Osnabrück zu fördern. Ab 2011 sollen dort Imame und Religionslehrer ausgebildet werden. Die Islamverbände erhalten über Beiräte Einfluss auf die Lehre und Personalauswahl.



Die Ansicht von Islamkritikern, dass sich an den neuen Lehrstätten ein konservativer Islam etabliere, erscheint daher nicht ganz unbegründet. Doch die bisherige Praxis mit Imamem, die ohne deutsche Sprachkenntnisse für ein paar Jahre ins Land kommen, war eindeutig die schlechtere Alternative. Spannend wird, inwieweit der wichtigste Islamverband und verlängerte Arm der türkischen Religionsbehörde, die DITIB, künftig zugunsten der Koranlehrer und Vorbeter made in Germany auf ihre Imame aus der Türkei verzichtet.



Solche Partikularinteressen verweisen auf das Hauptproblem zwischen dem deutschen Staat und seinen Muslimen: Auf deren Seite fehlt der repräsentative Ansprechpartner. Wegen der ethnischen und konfessionellen Vielfalt des Islam in Deutschland wird sich daran so bald nichts ändern. Seine Anerkennung als Religionsgemeinschaft ähnlich den Kirchen liegt weiter in der Ferne.



Die Deutsche Islam Konferenz des Bundesinnenministeriums, die im Mai in die zweite Runde ging, bleibt somit ein Provisorium. Wirbel verursachte vor allem der Ausschluss des Islamrats aus dem Dialoggremium, gegen dessen Mitglied Milli Görüs die Staatsanwaltschaft ermittelt. Auch der Zentralrat der Muslime verließ darauf das Gremium.



Minister Thomas de Maiziere (CDU) will dessen Arbeit 2011 stärker praktisch ausrichten; ein Modellprojekt zum bundesweiten islamischen Religionsunterricht soll entstehen. Allerdings droht einem ähnlichen Projekt in Hessen schon jetzt das Aus - wegen fehlender Ansprechpartner unter den Verbänden, so die Staatsregierung.