Ein Gastbeitrag von Cem Özedmir, Bundesvorsitzender der Grünen

Blockaden abbauen

Bei der von Thilo Sarrazin los getretenen Debatte erweckten viele Beteiligte den Eindruck, als werde in Deutschland zum ersten Mal über Integration debattiert - und sich dieser Debatte sonst immer verweigert. Das ist umso erstaunlicher, als die Probleme bekannt sind und Lösungsvorschläge längst auf dem Tisch liegen.

 (DR)

Die bittere Pointe dabei ist, dass ausgerechnet Thilo Sarrazin als Finanzminister in Berlin eine Kahlschlagpolitik zu verantworten hat, welche die Probleme nicht nur nicht gelöst, sondern sogar noch vergrößert hat. Darüber können Bezirksbürgermeister wie Heinz Buschkowsky viel erzählen, die trotz dieser Politik von Sarrazin dafür kämpfen, dass ihr Stadtteil nicht völlig abrutscht.



Wenn Menschen sich in ihrem Lebensumfeld unsicher oder bedroht fühlen, müssen wir das auch sehr ernst nehmen. Aber die Ursachen für diese Entwicklung einfach auf den muslimischen Hintergrund eines Teils der Bevölkerung zu reduzieren und nach Sanktionen zur rufen, ist billigster Populismus, der die gesellschaftliche Debatte verschärft, ohne einen praktikablen Lösungsvorschlag zu unterbreiten.



Darum bin ich auch sehr gespannt, welchen Kurs die SPD jetzt in der Integrationspolitik einschlagen wird. Ob sie sich von Sarrazin und seinen Thesen treiben lässt, oder sich mit kühlem Kopf für eine Integrationspolitik entscheidet, die die Probleme an ihrer Wurzel anpacken will. Dafür ist eine andere Bildungspolitik der zentrale Schlüssel. Denn Integration ist ohne Bildung zum Scheitern verurteilt.



Doch an der Bildungsungerechtigkeit hat sich fast zehn Jahre nach der ersten PISA-Studie immer noch nicht viel geändert. Die soziale Lage in manchen Milieus und Situation in problematischen Stadtteilen sind ein Auftrag an die Politik, endlich unser Bildungssystem, radikal zu stärken - und zwar angefangen bei den Kleinsten bis hin zu den Hochschulen. Wenn wir das nicht tun, wird dieses Land an die Wand fahren.



Denn der Anteil der Risikoschüler liegt immer noch bei rund 20 Prozent, sie verlassen die Schule ohne Ausbildungsreife. Ein Kind der Oberschicht hat im Vergleich zu einem Kind aus einer Arbeiterfamilie eine fast fünfmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen - bei gleicher Intelligenz und Lernvermögen. Das ist der eigentliche integrationspolitische Skandal in einer blockierten Gesellschaft, die das Aufstiegsversprechen mit Füßen tritt. Gesellschaft und Politik müssen hier endlich zu einer Umkehr bereit sein.



Wir können uns sofort darauf einigen, dass wir etwa Hassprediger nicht dulden können und jugendliche Serienstraftäter mit harter Hand anfassen müssen. Doch diese in einem Atemzug mit der ganzen Gruppe von muslimischen Migranten zu nennen, ist blanker Populismus.



Ein Paradebeispiel für Letzteres ist auch, wie mit schöner Regelmäßigkeit selbst von Politikern, die es besser wissen sollten, Sanktionen gefordert werden. Sie erwecken damit fahrlässig den Eindruck, als gäbe es diese nicht schon. Denn schon längst ermöglichen es die noch unter rot-grün verabschiedeten Gesetze, die Verlängerung des Aufenthaltsrechts abzulehnen oder das Arbeitslosengeld II spürbar zu kürzen, wenn die Teilnahme an einem verpflichtenden Integrationskurs verweigert wird. Hinzu kommt, dass die Integrationskurse eine Erfolgsgeschichte sind und die Nachfrage das Angebot übersteigt - wie die Regierung gerade erst kleinlaut zugeben musste.



Sanktionen nützen aber nichts bei Eltern, die selbst bildungsfern sind und mit den Erfordernissen der Erziehung in der sogenannten Wissensgesellschaft überfordert sind. Sie verfügen schlicht nicht über das soziale und kulturelle Kapital, um ihre Kinder entsprechend zu fördern. Hier helfen nur gute Schulen, gute Erzieher und Lehrer, die Zusammenarbeit mit den Jugendbehörden, die Rückholung von Schulschwänzern sowie die Zusammenarbeit mit Brückenbauern, die Vertrauen auf beiden Seiten genießen und auf die Eltern einwirken können.



Hier leistet uns Thilo Sarrazin einen Bärendienst, weil er und seine Anhänger nicht begreifen wollen, dass die Lösung von Integrationsproblemen nicht klappen kann, wenn selbst jene Migranten sich abwenden, die es in Deutschland "geschafft" haben. Gerade diese Menschen und Vorbilder braucht man unbedingt als aktive Partner, unter anderem, um anderen Migranten klar zu machen, dass sie in Deutschland nicht im Exil, in der Diaspora oder Verbannung sind.



Die aktuelle Debatte macht aber auch deutlich, wie schwierig der Umgang mit Vielfalt und Fremdheit für einen Teil der Bevölkerung offenbar ist. Viele, die Sarrazins Thesen ablehnen, geben doch zu erkennen, dass er "irgendwie doch Recht hat". Es geht hier offenbar um Gefühle und subjektive Erfahrungen, beispielsweise verursacht durch ein bestimmtes Machoverhalten von manchen Jugendlichen mit Migrationshintergrund.



Unsere Bildungseinrichtungen, etwa in Ganztagseinrichtungen, müssen in die Lage versetzt werden, da im Ernstfall auch "gegen" die Eltern zu erziehen, wenn zu Hause Werte vermittelt werden, die mit unserem Grundgesetz nicht zu vereinbaren sind. Aber man muss auch darauf hinweisen, dass es sich nicht um die Mehrheit handelt und das "Aushalten" von Verschiedenheit auf Grundlage unserer Verfassung zum Repertoire einer modernen Gesellschaft gehören muss. Das gilt für alle.



Es bleibt abzuwarten, wie die SPD, die von ihrem ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin auf dem falschen Fuß erwischt wurde, sich in der Integrationspolitik neu aufstellen wird. Die altehrwürdige Partei sollte sich darauf besinnen, dass ihr zentrales und historisches Leitmotiv soziale Gerechtigkeit und der Aufstieg von Arbeiterkindern in die gesellschaftliche Mitte ist. Der Bundesparteitag ist Gelegenheit, Farbe zu bekennen und integrationspolitisch nach vorne gewandte Konzepte zu diskutieren - und nicht nur die Geister von Thilo Sarrazin zu vertreiben.