Die Situation Obdachloser in Frankreich

Gesellschaft, die vergisst?

Obdachlose in Frankreich können ihr Recht auf eine Wonung einklagen. Theoretisch. Laut Gesetz. Doch die Praxis sieht anders aus: Die Sozialwohnungen reichen nicht aus, um alle Bedürftigen unterzubringen. Viele übernachten auf Pariser Trottoirs - und in den Wäldern um Paris.

Autor/in:
Martina Zimmermann
 (DR)

Wäsche hängt an einer Leine, die zwischen zwei Bäumen aufgespannt ist. Leere Getränkedosen stehen auf dem Boden. Aus dem Transistorradio tönen Nachrichten. Ein Einkaufswagen aus dem Supermarkt steht neben dem gelben, mit Vorräten gefüllten Zelt. In drei weiteren Zelten um die Feuerstelle wohnen Obdachlose. Im "Bois de Vincennes", der grünen Lunge im Osten von Paris, verbergen sich hinter Bäumen und Büschen eine ganze Reihe solcher Obdachlosenlager.

Der schwarzhaarige Toto ist klein und dürr. Der 45-Jährige hat "zwei Jahrzehnte auf der Straße" hinter sich: "Seit 20 Jahren verspricht man mir eine Wohnung." Der ehemalige Fensterputzer war immer wieder auf dem Arbeitsamt. Er nehme jede Arbeit an, auf dem Amt bekomme er immer dieselbe Antwort: "Wir rufen Sie an." Aber keiner ruft an. Hat er die Sozialhilfe von 350 Euro im Monat verbraucht, geht er betteln.

Tarik, 57, ist ein berühmter Komponist. Die Hits des Algeriers werden immer noch ab und zu im Radio gespielt, dafür bekommt er bis heute jedes Jahr ein paar hundert Euro. Im Gegenzug wird ihm allerdings die Sozialhilfe gekürzt. Tarik, der seit 40 Jahren in Frankreich lebt, hier studiert und als Musiker gearbeitet hat, war in den letzten Jahren in Hotels untergebracht, in Obdachlosenheimen und Notunterkünften. Dass er seit drei Monaten im Wald lebt, versucht er mit Humor zu nehmen: "In meiner Jugend war ich Pfadfinder."

"Warum müssen wir uns im Wald verstecken?"
Die Zelte von Tarik und Toto werden von der Polizei toleriert. Die Gendarmerie reitet auf Pferden auf dem nahen Reitweg vorbei. Jogger treiben Sport, Spaziergänger führen ihre Hunde spazieren. "Gott hat uns vergessen", sagt Toto. "Warum müssen wir uns im Wald verstecken?" Die Hilfsorganisation Emmaüs verteilt Essen und Kaffee. "Eine Mahlzeit pro Person", sagt Tarik. "Pro Tag", fügt Toto an.

Die Obdachlosenbewegung "Die Kinder Don Quichottes" wollte vor einigen Jahren das soziale Elend in Frankreich sichtbar machen. Dazu baute sie vor Weihnachten 2007 in den französischen Städten Zelte für Obdachlose auf. Prompt werden die langen Zeltreihen am Pariser Kanal Saint Martin die Aufmacher der Nachrichten in aller Welt. Präsident Jacques Chirac forderte daraufhin ein Gesetz, das ein "Recht auf Wohnung" festschreibt. Es wurde 2008 verabschiedet.

Obdachlose können seither ihr Recht beim Staat einklagen, doch zuerst sind die am meisten Gefährdeten dran: Obdachlose oder Familien, die vor der Räumung stehen; Familien, die in Einsturz gefährdeten Häusern wohnen und Eltern mit minderjährigen Kindern, die in engen oder ungesunden Wohnverhältnissen leben. Für die meisten Obdachlosen ist dieses Recht also nicht realisierbar.

2009 starben 358 Obdachlose
Im Jahr 2009 stellte der französische Staat für Notunterkünfte und Nahrungsmittelhilfe 1,1 Milliarden Euro bereit. 2010 soll der Betrag um 110 Millionen Euro erhöht werden. In Frankreich lebten im Jahr 2008 acht Millionen Menschen unter der Armutsgrenze. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 13 Prozent, also etwas weniger als in Deutschland (15 Prozent). Die Sozialwohnungen reichen nicht aus, um alle Bedürftigen unterzubringen.

"Wenn ich gewählt werde, soll in zwei Jahren keiner mehr auf dem Trottoir schlafen und dort vor Kälte sterben", sagte Nicolas Sarkozy am 18. Dezember 2006. 2007 wurde Sarkozy zum Präsidenten gewählt. 2010 schlafen Obdachlose auf Pariser Trottoirs - und in den Wäldern um Paris. Ihre Zahl wird auf 100.000 geschätzt. 2009 starben in Frankreich laut der Organisation "Morts dans la Rue" 358 Obdachlose. "Mein Freund wartete auch auf eine Wohnung, aber er starb, bevor er sie bekam", meint Toto bitter.