Die Bewegung des türkischen Predigers Gülen gibt Rätsel auf

Hexenmeister des Dialogs

Mit seinem grauen Schnäuzer, dem Haarkranz und der sanften Stimme wirkt er wie der gemütliche anatolische Großvater. Dabei ist Fethullah Gülen womöglich die aktivste und einflussreichste Figur im türkischen Islam der Gegenwart - und die umstrittenste. Ein Erklärungsversuch.

Autor/in:
Christoph Schmidt
 (DR)

Seinen sechs bis acht Millionen meist türkischen Anhängern gilt der Prediger als «Hodscha Efendi», als «ehrenwerter Lehrer», als wahrer Schlüssel zum Verständnis des Koran.

Manche westlichen Beobachter sehen die Gülen-Bewegung zumindest als Wegbereiter eines modernen Islam. Denn in seinen Schriften und Reden spricht der 69-Jährige viel von Toleranz und interreligiösem Dialog. Neben Frömmigkeit und guten Taten fordert Gülen von den Muslimen vor allem eins: Bildung, Bildung, Bildung. «Baut Schulen statt Moscheen!», lautet die Parole.

Inzwischen ist die Gülen-Bewegung in mehr als 50 Ländern mit Schulen, Studentenheimen, Nachhilfeinstituten und Dialogvereinen aktiv. In der Türkei betreiben «Fethullahcis» außerdem drei Universitäten, Radiostationen, einen TV-Sender, die auflagenstarke Zeitung «Zaman», Buchverlage und Stiftungen, Banken und Unternehmen.
Insgesamt sollen die Werte der Bewegung auf rund 20 Milliarden Euro angewachsen sein. Darüber hinaus finanziert sie sich nach ihren Angaben über Spenden der Mitglieder, darunter viele Unternehmer der aufstrebenden türkischen Mittelschicht. Auch in Deutschland unterhält die Bewegung ein Dutzend anerkannte Schulen - Unterrichtssprache Deutsch - und 150 Nachhilfezentren.

Gülens Anhänger bezeichnen ihre Organisation als humanistisches Netzwerk. Hinter der Mischung aus Massenbewegung, Wirtschaftsimperium und Medienmacht vermuten Kritiker jedoch eine versteckte Agenda zur «Islamisierung der Moderne». Unter dem Lack dialogreicher Verkündigungen des «anatolischen Gandhi» verberge sich der Rost einer zutiefst traditionalistischen Koranauslegung mit der Scharia im Zentrum. Sie verweisen auf Äußerungen, in denen Gülen die Todesstrafe für Religionswechsler rechtfertigt, den Dschihad preist, Demokratie und Frauenrechte relativiert oder Christen und Juden eine Verfälschung der göttlichen Botschaft vorwirft. Auch seine Ablehnung der Evolutionslehre, die für den Kreationisten Gülen nur «atheistischen Materialismus» enthält, weckt Befremden.

Den Islamwissenschaftler Ralf Ghadban beunruhigen auch die türkisch-nationalistischen Töne, die der Hodscha je nach Publikum anschlägt. Tatsächlich verfügt er über gute Kontakte zur extremen Rechten in der Türkei wie auch zur konservativen AKP von Ministerpräsident Erdogan: Das Innen- und Bildungsministerium sollen weitgehend in der Hand von Fethullahcis sein, auch in der Polizei haben sie großen Einfluss. Insgesamt werten Beobachter die Bewegung als dritte Kraft neben AKP und türkischer Armee.

Für Ghadban passt es in Bild, dass die türkische Justiz Gülen bereits wegen eines 1998 aufgetauchten Videos anklagte, auf dem er seine Anhänger in einer zusammengeschnittenen Rede zur Unterwanderung der Institutionen aufruft. Der Hodscha, der kurz zuvor in die USA abwanderte, sprach von einer Manipulation durch seine kemalistischen Gegner. 2006 - mittlerweile war die AKP an der Macht - wurde er zwar freigesprochen, lebt aber weiterhin in Connecticut.

Der Religionswissenschaftler Michael Blume warnt vor Hysterie. Es gebe keine klaren Beweise dafür, dass Gülen ein doppeltes Spiel treibe. Die problematischen Zitate zu Religionsfreiheit und Menschenrechten seien nicht aktuell, der Prediger habe sich gewandelt. Liberale Positionen Gülens, etwa zum Kopftuch, würden von den Kritikern ignoriert. Bemerkenswert ist für Blume, dass der Hodscha nicht nur von Säkularen, sondern auch von Islamisten attackiert wird. Sie sehen in ihm einen Günstling der USA, der deren Einfluss in den strategisch wichtigen turksprachigen Ländern Zentralasiens verstärken und die Türkei auf Westkurs halten soll.

Schwer kreideten ihm islamistische Kreise an, dass er Israels Angriff auf die Gaza-Flottille rechtfertigte. Dass die CIA ein reges Verhältnis zu Gülen pflegt, ist zudem ein offenes Geheimnis.