Auch nach 34 Jahren sind die Toten von Videla nicht vergessen

Ex-Diktator wieder vor Gericht

Nervös sucht sich der kleine weißhaarige Mann einen freien Sitz im Gerichtssaal. Das letzte Mal saß er vor 25 Jahren auf einer Anklagebank. Der 84-Jährige mit dem dunkelblauen Anzug und adretter Brille sieht aus wie der korrekte Nachbar von nebenan - doch es ist Argentiniens Ex-Diktator Jorge Rafael Videla.

Autor/in:
Camilla Landbö
 (DR)

Bis 1981 stand er an der Spitze einer brutalen Militärjunta. Menschenrechtsgruppen zufolge "verschwanden" während der Diktatur (1976-1983) mindestens 30.000 mutmaßliche Regimegegner. Sie wurden erschossen, verbrannt, verscharrt oder aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen.

Im Augenblick muss sich im argentinischen Cordoba nicht nur Videla für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Vier Sitzreihen im Gerichtssaal sind allein von Angeklagten belegt. Dazu gehört auch der 83-jährige Luciano Benjamin Menendez. Der Ex-General führte die berüchtigte Heeresgruppe 3 an, die besonders brutal gegen Oppositionelle vorging. Den insgesamt 30 angeklagten Militärs und Polizisten sowie einem Arzt wird Mord in 31 und Entführung und Folter in 6 Fällen vorgeworfen.

Erstmals wird der Staatsterrorismus nachgewiesen
Der Prozess hat für die Argentinier große Bedeutung. Einerseits, weil Hauptverantwortliche von damals zur Rechenschaft gezogen werden. Andererseits, weil danach voraussichtlich erstmals der Staatsterrorismus im Land nachgewiesen sein wird. Die Militärs verbreiteten Ende der 70er Jahre Angst und Schrecken. Sie folterten und ermordeten mit Hilfe von Politikern, Unternehmern, Juristen, Ärzten und katholischen Geistlichen. Todesscheine wurden gefälscht, Häuser von Ermordeten auf Militärs überschrieben, mutmaßliche Regimegegner sogar von Priestern verraten.

Videla gehörte zu den Anführern des Putsches gegen die demokratische, aber unbeliebte Regierung von Isabel Peron (1974-1976). Nach Rückkehr der Demokratie wurde der Ex-Diktator 1985 in einem vielbeachteten Prozess gegen die Junta in Buenos Aires zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Fünf Jahre später profitierte auch er von Begnadigungsdekreten des damaligen Präsidenten Carlos Menem (1989-1999), die bereits Verurteilte von ihren Strafen befreiten. Im April hob das Oberste Gericht diese auf.

Nun stehen dem Ex-Diktator mehrere Prozesse bevor: Im September etwa muss sich Videla in 33 Fällen wegen Raubes von Kleinkindern verantworten. Vor allem Neugeborene wurden während der Diktatur den politischen Gefangenen weggenommen und kinderlosen Militärs zur Adoption überlassen.

Deutsche ermitteln auch
Auch die deutsche Justiz ermittelt gegen Videla. Die Nürnberger Staatsanwaltschaft erließ zu Jahresbeginn einen internationalen Haftbefehl. Dabei geht es um den Deutschen Thomas Stawowiok, der 1978 in Argentinien verschwand. Rechtsmediziner konnten 2009 nachweisen, dass der 20-jährige Student ermordet und als Unbekannter in Buenos Aires bestattet wurde. Weiter tritt Nürnberg in einem anderen Prozess gegen Videla als Nebenkläger auf: Dem Ex-Juntachef werden die Morde an der Tübinger Soziologin Elisabeth Käsemann 1977 und dem Münchner Studenten Klaus Zieschank 1976 angelastet.

Mit dem Amtsantritt von Präsident Nestor Kirchner (2003-2007) hatte nach fast 20 Jahren Stillstand die Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur begonnen. 2004 entschied das Oberste Gericht, dass Menschenrechtsverletzungen nicht verjähren. Ein Jahr darauf erklärte es die Begnadigungsgesetze des Namens "Schlusspunkt" und "Gehorsamspflicht", die unter anderem damalige Verbrecher vor Prozessen schützten, für verfassungswidrig. Seither werden zahlreiche Gerichtsverfahren neu aufgerollt oder überhaupt erst begonnen.

Während in Cordoba die lange Anklageschrift vorgetragen wird, hält in der ersten Sitzreihe ein Mann wie ein braver Schuljunge die Hand hoch. Er will etwas anmerken. "Nein, Herr Videla, jetzt nicht", sagt der zuständige Richter streng. "Sie werden noch genug Gelegenheit bekommen zu reden." Murmeln im Gerichtssaal. Und der frühere Diktator schweigt. In seinem Prozess sollen zunächst mehr als 60 Zeugen aussagen - bis voraussichtlich Ende des Jahres.