Sozialwissenschaftler: Sparpaket zieht bei Bedürftigen Daumenschrauben an

Nicht ohne Mindestlohn

Im Kampagnenjahr der EU gegen Armut wird in Deutschland heftig über die soziale Ausgewogenheit des geplanten Sparpaketes der Bundesregierung gestritten. Der Evangelische Pressedienst (epd) befragte dazu Stefan Sell, den Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der Fachhochschule Koblenz.

Armutsrisiko Kind: Das Sparpaket ist sozial unausgewogen (epd)
Armutsrisiko Kind: Das Sparpaket ist sozial unausgewogen / ( epd )

epd: Das EU-Kampagnenjahr gegen Armut 2010 will zeigen, wie soziale Ausgrenzung zu überwinden ist. Zur gleichen Zeit beschließt die Bundesregierung ein Sparpaket, das vor allem Bedürftige trifft.
Wie passt das zusammen?
   
Stefan Sell: Weil das eine eher proklamatorische Politik und das andere Realpolitik ist. Dass das Sparpaket vor allem die Bedürftigen trifft, ist der Tatsache geschuldet, dass hier am wenigstens organisierter Widerstand zu erwarten ist. Die vorgesehenen Kürzungen passen in die bisherige "Logik" seit den Hartz-Reformen, die materiellen Daumenschrauben anzuziehen, um dadurch "Anreize" zur Aufnahme irgendeiner Beschäftigung zu setzen. Fatal wird das dann im Zusammenspiel der in Deutschland fehlenden Lohnsperren nach unten.

Denn wenn die Löhne weiter sinken, muss man auch die Transferleistungen weiter absenken, um der Illusion der Aufrechterhaltung des "Lohnabstandsgebotes" nachlaufen zu können.

epd: Kritiker halten das Sparpaket für sozial unausgewogen. Müssen nicht, schon um ein deutliches Zeichen zu setzen, Vermögende mehr beitragen zur Konsolidierung des Haushaltes?
Sell: Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die oberen Einkommen seit Mitte der 90er Jahre bereits mehrfach steuerlich erheblich entlastet worden sind. Allein vor diesem Hintergrund wäre eine substanzielle Beteiligung der oberen Einkommen nicht nur aus Gerechtigkeitsüberlegungen angezeigt, sie würde auch nur einen Teil der Entlastungen wieder einsammeln. Sinnvoll wäre eine Steuerreform, die den Spitzensteuersatz wieder anhebt, allerdings in Verbindung mit einem späteren Einstiegspunkt der Einkommen in diese Besteuerungszone. Das ganze muss durch Reformen bei der Vermögens- und Erbschaftssteuer angereichert werden. Von erheblicher Bedeutung wäre zugleich die Einführung einer Abschöpfungssteuer leistungsloser Gewinne auf den Finanzmärkten.

epd: Viele Menschen in Deutschland sind arm, obwohl sie Arbeit haben. Sie verdienen nicht genug, um sich und ihre Familien ohne staatliche Hilfen über Wasser zu halten. Sind flächendeckende Mindestlöhne nicht das beste Mittel, Armut zu verhindern?
Sell: Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn als eine für alle verbindliche Basis und darauf aufsetzend branchenspezifische Lösungen wären dringend notwendig, um den in Deutschland besonders ausgeprägten Lohndruck nach unten aufzuhalten und umzukehren. Aber man sollte sich zugleich dafür hüten, den Menschen Ammenmärchen aufzutischen: Kein realistisch implementierbarer Mindestlohn kann in der Lage sein, alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Haushaltskonstellationen aus der Armut herauszuheben. Es wird weiterhin Unterstützungsbedarf geben. Der aber sollte nicht mehr über die derzeit sehr entwürdigend ausgestaltete Art und Weise befriedigt werden.