Straßburg verhandelt umstrittenes Urteil in letzter Instanz

Finale im Kruzifix-Streit

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am Mittwoch in Straßburg erneut darüber verhandelt, ob Kruzifixe in Klassenräumen staatlicher Schulen gegen die Menschenrechte verstoßen. Ein abschließendes Urteil wird in einigen Monaten erwartet. Das Verfahren wird auch in Deutschland aufmerksam beobachtet.

Der Kirche wichtig: Das Kreuz in der Schule (epd)
Der Kirche wichtig: Das Kreuz in der Schule / ( epd )

Der Fall hat grundsätzliche Bedeutung: Muss eine Mutter es hinnehmen, dass ihr Kind in einem Klassenraum unterrichtet wird, in dem das Kruzifix an der Wand angebracht ist? Italiens oberste Richter sagten «Ja». Der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg urteilte im November mit «Nein». Heute geht der Streit in eine neue und letzte Runde. Denn Anfang März billigte eine Kammer des Gerichtshofs die Forderung, das Verfahren vor einer Großen Kammer neu aufzurollen.

Das Urteil vom November hatte europaweit Schlagzeilen gemacht. Dass die Überweisung an die Große Kammer gebilligt wurde, war daher auch keine Überraschung. Die bloße Fülle der - auch, aber nicht nur juristischen - Kommentare zeigte an, dass es hier um einen Fall von großer Tragweite geht.

In staatlichen Schulen nichts zu suchen?
In Italien hatte die Klägerin vergeblich für das Abhängen der Kruzifixe gestritten. Der Staatsrat, das oberste italienische Verwaltungsgericht, hielt ihr 2006 entgegen, das Kruzifix sei längst zu einem Symbol für die Werte Italiens geworden. Der Menschenrechtsgerichtshof folgte dieser Sichtweise nicht. Eine sieben Richter umfassende Kammer unter Leitung der Belgierin Francoise Tulkens befand, das Kreuz sei ein eindeutig religiöses Symbol. In staatlichen Schulen habe es daher nichts zu suchen, weil sich die Schüler in ihrem Empfinden gestört fühlen könnten. Wenn in staatlichen Schulen religiöse Symbole öffentlich gezeigt würden, schränke das die Religions- und Erziehungsfreiheit ein, urteilten die Richter - einstimmig.

Schon im Urteil von Anfang November machten die Richter grundsätzliche Anmerkungen. «Die Schule soll nicht Schauplatz missionarischer Aktivitäten oder der Predigt sein», hieß es da etwa. Den Schülern als jungen, noch formbaren Menschen fehle es an kritischer Distanz zu der Botschaft, die ein Staat aussende, wenn er eine bestimmte Religion bevorzuge.

Partei ergriffen für die Seite der Nicht-Religiösen?
Italien legte Widerspruch ein. Die Begründung für den Wunsch nach einer Neuverhandlung stützt sich vor allem auf zwei Argumentationslinien. Die eine besagt, dass der Staat zwar die Pflicht hat, Neutralität gegenüber den Religionen zu wahren. Das bedeute aber nicht absolute Unparteilichkeit. Denn durch sie werde in Wahrheit Partei ergriffen für die Seite der Nicht- oder Anti-Religiösen. So hätten die Richter eine neue Interpretation der Religionsfreiheit geliefert, die schädliche Folgen für die Bürger zahlreicher Europarats-Mitgliedstaaten haben könnte.

Das zweite Argument geht davon aus, dass in Italien das Kreuz nicht nur ein religiöses Symbol ist, sondern auch identitätsstiftende Wirkung hat, ähnlich der Nationalflagge oder dem Foto des Staatspräsidenten. Es stehe für die Werte, auf denen die italienische Gesellschaft aufgebaut sei.

Entscheidung völlig offen
Würde die Argumentation der Straßburger Richter auf die Spitze getrieben, so meinen die italienischen Juristen, müssten auch Kathedralen und Kirchen abgerissen werden, denn sie könnten die jungen Bürger ebenfalls emotional verstören. Wenn die Kreuze in den italienischen Schulen abgehängt würden, wäre die Störung des religiösen und sozialen Friedens jedenfalls größer als im umgekehrten Fall, lautete das Fazit Italiens.

Wie die Große Kammer entscheiden wird, ist völlig offen. Möglich und wahrscheinlich ist, dass die Bandbreite der Argumente sich vergrößert. Gegen das Urteil der 17 Richter ist dann in jedem Fall kein Widerspruch mehr möglich. Der Rechtsweg ist ausgeschöpft.

Bischöfe für Verbleib der Kreuze in Schulen
Das Verfahren wird auch in Deutschland aufmerksam beobachtet. Auch dort war das Urteil heftig kritisiert worden. Die katholischen Bischöfe treten für den Verbleib von Kreuzen in öffentlichen Schulen ein. Zum Wesen des weltanschaulich neutralen Staates gehöre es, die positive Religionsfreiheit der Schüler nicht zu beschneiden, für die das Kreuz das Symbol christlicher Glaubensüberzeugung sei, sagte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, am Mittwoch in Bonn.

Mit dem Kruzifix in der Schule werde Andersgläubigen weder etwas vorgeschrieben noch aufgenötigt. «Der Staat muss sich, wenn er nicht seine Identität verlieren will, zu seinen Wurzeln, Werten und Traditionen bekennen können, freilich ohne jemandem eine Religion aufzuzwingen», mahnte der Freiburger Erzbischof. Das Anbringen eines Kreuzes in einem Klassenzimmer und die Präsenz religiöser Symbole im öffentlichen Raum sei der Ausdruck des staatlichen Bekenntnisses zu seiner Identität, seinen Wurzeln und zu seinen Werten. Zugleich sei das Kreuz für die Christen zentrales, konfessionsübergreifendes Symbol christlicher Glaubensüberzeugung.

In manchen deutschen Gerichtssälen und Schulen hängen Kreuze. Im letzteren Fall müssen sie jedoch infolge des Kruzifix-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts abgenommen werden, sofern sich ein Schüler in seiner (negativen) Religionsfreiheit verletzt fühlt und es sich nicht um eine Bekenntnisschule handelt.