Rückblick des bisherigen Primas Muszynski

"Immer noch missionarisch"

Führungswechsel in der Polnischen Bischofskonferenz: Der bisherige Primas und Gnesener Erzbischof Henryk Muszynski geht in den Ruhestand. In einer Bilanz spricht er über die Tragödie des Absturzes der Präsidentenmaschine und erinnert sich an den neuen Seligen Jerzy Popieluszko.

Erzbischof Muszynski (KNA)
Erzbischof Muszynski / ( KNA )

KNA: Herr Erzbischof, nur wenige Monate nach Ihrer Amtseinführung als Primas treten Sie Ende des Monats in den Ruhestand. Auf was blicken Sie besonders dankbar zurück?
Muszynski: Dass es mir gelungen ist, den Primastitel nach 171 Jahren wieder eindeutig von Warschau nach Gniezno (Gnesen) zurückzuholen. Die Entscheidung hat bereits Johannes Paul II. getroffen, und Benedikt XVI. hat sie bestätigt. Aus geschichtlichen und rechtlichen Gründen, wie es im Dokument der beiden Päpste heißt. Gniezno war Sitz der ersten Kirchenprovinz Polens. Hier sind auch die Reliquien des heiligen Adalbert, des Schutzpatrons Polens.

KNA: Sie haben sich seit Ihrer Studienzeit in Heidelberg und Jerusalem stark im deutsch-polnischen und christlich-jüdischen Dialog engagiert - erst recht als Bischof. Welche Bilanz ziehen Sie?
Muszynski: Wir sind uns als Menschen und als Christen näher gekommen. Der Dialog hat dazu geführt, dass wir versuchen, uns in die Lage des anderen zu versetzen. Das hat auch unsere eigene Identität gestärkt. Eine Sache ist sehr wichtig: dass es uns gelungen ist, das Vertrauen zueinander zu gewinnen oder wieder aufzubauen.

KNA: Der lange Streit um das in Berlin geplante Vertriebenenmuseum scheint vorbei. Wie berechtigt war und ist ihrer Meinung nach die Angst vieler Polen, die Deutschen könnten durch das Gedenken an die eigenen Opfer die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg relativieren und die Polen als Täter brandmarken?
Muszynski: Ich würde mir wünschen, dass der Streit über die Vertreibung wirklich vorbei wäre. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob es der Fall ist. Die Einseitigkeiten von Tätern einerseits und Opfern anderseits kann man ja nur durch volle und objektive Wahrheit überwinden. Sicherlich relativiert man eigene Schuld, wenn man die anderen als Täter des eigenen Greuels brandmarkt. Inwieweit dies tatsächlich der Fall ist, ist für mich schwer zu beurteilen. Aber es gibt auf beiden Seiten Simplifizierungen, die sich festgesetzt haben. Die neuen Generationen, die frei sind von Vorbelastungen, müssen diese Themen wieder aufnehmen, damit wir gemeinsam unsere christlichen Aufgaben im neuen Europa wahrnehmen können.

KNA: Mehr als 25 Jahre nach der Ermordung durch den Geheimdienst ist am Sonntag der Priester Jerzy Popieluszko seliggesprochen worden.
Sie haben ihn Anfang der 80er Jahre in Warschau erlebt.
Muszynski: Ich habe Popieluszko als sehr schlichten und einfachen Priester in Erinnerung. Er war sogar schüchtern. Er war vom Typ her kein Führer, der die Massen lenken wollte. Aber er war sehr aufrichtig - er konnte nicht sagen, dass das, was gestern wahr war, nun am nächsten Tag, wo die Gewerkschaft Solidarnosc verboten wurde, auf Befehl der Kommunisten falsch sein sollte. Obwohl ich in der Nähe seiner Kirche wohnte, war es in der damaligen Zeit sehr schwer, sich eine Meinung darüber zu machen, wenn man nicht Popieluszkos Predigten hörte. Denn die Zeitungen wurden zensiert. Die Kommunisten haben ihn zum Politiker abgestempelt. Das war natürlich nicht wahr. Er versuchte nur, das Evangelium zu predigen und den Leuten Hoffnung zu geben in der schwierigen Lage. Er stand einfach auf der Seite der Menschen.

KNA: Nach der Tragödie des Absturzes der Präsidentenmaschine wird in Polen über das Für und Wider der Heroisierung der 96 Opfer diskutiert. Sehen Sie die Gefahr der Mythenbildung?
Muszynski: Für die Menschen, die den christlichen Glauben nicht teilen, mag es von weitem so aussehen. Persönlich sehe ich die Gefahr einer Mythologisierung nicht. Es geht viel mehr um die Rettung des christlichen Sinnes einer zusätzlichen Tragödie, die noch zu der Tragödie von Katyn dazukam, mit diesem schrecklichen Ausmaß, die vielen als Fluch oder als sinnlos erscheint. Der Sinn der Reise der polnischen Delegation war ja, die Opfer des Mordes in Katyn zu ehren und die Wahrheit über dieses Ereignis ans Licht zu bringen. Und in diesem Sinne versucht man auch, der neuen Tragödie einen Sinn zu geben. Denn wir bewegen uns ja hier zwischen Fluch und Segen.

KNA: Der Krakauer Kardinal Stanislaw Dziwisz sagte, Staatspräsident Lech Kaczynski sei einen "Heldentod" gestorben, weil er auf dem Weg ins russische Katyn war, um die Opfer des Massakers an 22.000 Polen im Jahr 1940 zu gedenken. Der Lubliner Erzbischof Jozef Zycinski warnte hingegen davor, die Unfallopfer zu Märtyrern zu erklären. Welche Sicht überwiegt unter den Bischöfen?
Muszynski: Die Aussage von Dziwisz verstehe ich so, dass alle, die sich für die Rettung der Wahrheit von Katyn eingesetzt haben, mit diesem Werk sehr stark verbunden sind. Natürlich ist es kein Martyrium, wie es Zycinski gesagt hat. Wenn man den Glauben nicht hat, sagt man auch einfacher: schrecklicher Unfall. Von einem Martyrium spricht man nur in diesem Sinne, dass auch jene, die für diese Wahrheit gekämpft haben - und das war auch Kaczynski - unsere Achtung und Ehrerweisung verdienen. Manche saßen zur kommunistischen Zeit auch im Gefängnis, weil sie die Wahrheit sagten. Die haben für die Freiheit gekämpft.

KNA: Am 20. Juni muss ein neuer Staatspräsident gewählt werden. Wie wird sich die Kirche im Wahlkampf verhalten?
Muszynski: Die Lehre der Kirche ist ganz eindeutig: keine Parteinahme für irgendeinen Kandidaten. Die Frage ist, ob sich alle daran halten werden. Von Seiten der Bischöfe gibt es eine weitgehende Zurückhaltung.

KNA: Kardinal Jozef Glemp hat vor wenigen Tagen den landesweiten Kirchensender "Radio Maryja" als "großes Problem" bezeichnet und Senderchef Pater Tadeusz Rydzyk den Rücktritt nahegelegt. Was ist Ihre Meinung?
Muszynski: Die Simplifizierung, die man in dem Sender hört - schwarz und weiß, gut und böse - als Urteil der gesamten Kirche ist natürlich nicht zu akzeptieren. Aber sonst bin ich schon für ein Radio. Es gibt ja sehr starke laizistische Tendenzen. Ein solches Radio darf nicht von der Kirche und im Namen der Kirche oder von Leuten der Kirche, besonders von Geistlichen, getragen werden. In dieser Hinsicht würde ich Altprimas Glemp zustimmen. Es ist wirklich ein großes Problem für uns alle, und es wird daran gearbeitet. Ich würde mir wünschen, dass die Arbeit energischer aufgenommen würde. Man sollte alles tun, dass es auch wirklich ein katholischer Sender wird.

KNA: 73 Prozent der erwachsenen Polen bewerten in einer aktuellen Umfrage die Arbeit der katholischen Kirche positiv. Das sind 10 Prozentpunkte mehr als im vergangenen Herbst und der höchste Wert seit Beginn der Erhebung 1998. Worauf führen Sie das hohe Ansehen zurück?
Muszynski: Ich führe das vor allem auf die junge Generation zurück. Für die jungen Leute bedeutet Christ zu sein etwas mehr, als nur einer gewissen Tradition anzugehören oder nach christlichen Sitten zu leben. Viele junge Leute versuchen, den Glauben ganz bewusst zu leben und zu bezeugen. Das ist vielleicht eine Reaktion auf die fortschreitende Säkularisierung. Zum katholischen Jugendtreffen in Lednica bei Gniezno kamen zuletzt wieder etwa 80.000 junge Leute aus ganz Polen.

KNA: Die polnischen Priesterseminare melden seit Jahren immer weniger Eintritte. Folgt daraus, dass künftig weniger polnische Pfarrer in Deutschland arbeiten werden?
Muszynski: Das kann man nicht ausschließen. Das wäre eine logische Konsequenz. Aber jedes Jahr gehen von Gniezno aus etwa 30 bis 40 junge polnische Missionare und Missionarinnen, Priester und Ordensfrauen, in die ganze Welt, auch nach Deutschland. Die polnische Kirche ist immer noch eine missionarische und dynamische Kirche. Die niedrigere Zahl der Priesteranwärter hängt unter anderem mit dem Geburtenrückgang zusammen.

Das Gespräch führte Oliver Hinz.