Der Aufbau 100 Tage nach dem Erdbeben

Businessplan für Haiti

100 Tage nach dem schweren Erdbeben in Haiti fordern große Hilfsorganisationen in Deutschland einen schnelleren Aufbau verlässlicher Institutionen und politischer Strukturen. Ein Selfmade-Unternehmer will seinem Land mit Hilfe mittelständischer Betriebe voranbringen.

Autor/in:
Matthias Knecht
 (DR)

Eine Stunde Fahrt oberhalb des stickigen Elendsviertels Cité Soleil weht angenehm kühle Bergluft. Reginald Boulos, Präsident der haitianischen Wirtschaftskammer, empfängt seine Besucher in Hemdsärmeln. Auch in seiner geräumigen Villa geht es hemdsärmelig zu. Denn viele seiner Unternehmen - Autohandel, Pharma-Import, fünf Supermärkte und zwei Zeitungen - sind seit dem Erdbeben vom 12. Januar nur noch ein Haufen Schutt. Was von seinem Imperium übrig ist, wird jetzt zwischen Küche und Wohnzimmertisch verwaltet.

Wie Haiti wieder aufbauen? Boulos, 54, hat eine Vision, die im Land und bei den ausländischen Gebern auf Interesse stößt. "Das größte Problem Haitis ist die fehlende Mittelklasse", sagt der Repräsentant der Privatwirtschaft. "Es gibt 90 Prozent Arme und 10 Prozent Reiche. Es gibt aber nichts dazwischen." Die Lücke auffüllen will Boulos mit dem, was auch in Deutschland die meisten Jobs und Wohlstand schafft, mit mittelständischen Unternehmen. 100.000 davon ließen sich ohne weiteres schaffen, schätzt Boulos. Doch dafür braucht es Kapital und Kredite. 350 Millionen US-Dollar will er zusammentrommeln. 100 Millionen davon bekam er bereits, von der Interamerikanischen Entwicklungsbank.

Zwar sicherte die internationale Gemeinschaft Haiti knapp zehn Milliarden US-Dollar zu, aber nicht für eine kommende Mittelklasse, sondern für Nothilfe und Wiederaufbau. Entsprechend sieht es derzeit im verarmten und verwüsteten Karibikstaat aus, wo sich mindestens 2.000 internationale Hilfsorganisationen tummeln. Sie bauen Zelte und Fertighäuser, bringen Frischwasser, Toiletten und psychologische Betreuung für die schätzungsweise 1,2 Millionen Obdachlosen. Und sie finanzieren Arbeitsbeschaffung für 100.000 Haitianer, die Trümmer wegräumen, für fünf US-Dollar täglich.

"Man kann ein Land nicht mit Entwicklungshilfe entwickeln"
"Es ist gut, dass sie uns helfen", lobt Boulos die ausländischen Organisationen und lässt Sätze folgen, die wie Ohrfeigen für die Gelobten wirken. "Vision und Führerschaft müssen wir Haitianer selbst entwickeln", mahnt der Selfmade-Mann. "Nur der Privatsektor kann ein Land entwickeln. Hilfsorganisationen können das nicht. Man kann ein Land nicht mit Entwicklungshilfe entwickeln."

Aus dem Mund jedes anderen haitianischen Unternehmers würden solche Sätze zynisch klingen. Aber nicht bei Boulos, dem früheren Armenarzt. In Cité Soleil, dem größten Elendsviertel der Hauptstadt Port-au-Prince, baute er einst das erste Krankenhaus - bis er sich mit dem damaligen Präsidenten und ehemaligen Armenpriester, Jean-Bertrand Arisitide 1996 überwarf. Boulos wurde aus der Not heraus Unternehmer und hatte Erfolg.

Sein Rezept, klare Prioritäten und Ziele, will Boulos nun dem Land
verpassen: "Haiti braucht einen Businessplan." Im Tourismus, in der Landwirtschaft und in der Stadtentwicklung sieht Boulos viel Potenzial für mittelständische Unternehmen. Die aber benötigen Kredite.

Boulos ist keiner, der einer blinden Liberalisierung das Wort redet. Scharf kritisiert er die Handelspolitik der vergangenen Jahrzehnte. Während Haiti zunehmend subventionierten Reis aus den USA und andere Lebensmittel importierte, verkam die eigene Landwirtschaft und blieben die Bauern ohne Einkünfte. Selbst Eier muss das ärmste Land des lateinamerikanischen Kontinents heute im Ausland kaufen, eine Million Stück täglich.

"Aber nicht, indem man T-Shirts näht"
"Wir müssen 65 Prozent unserer Lebensmittel importieren. Das ist das Ergebnis der liberalen Politik, die uns die USA aufzwangen", kritisiert Boulos. Genauso wenig hält er von der Auftragsfertigung von Textilien, dem bisher einzigen nennenswerten Exportsektor Haitis. "Man kann ein Land nicht entwickeln, indem man T-Shirts näht."

Erstaunlich ist es schon, dass ein Mann wie Boulos überhaupt im Land anzutreffen ist. 86 Prozent der Haitianer, die über die mittlere Reife oder einen höheren Bildungsabschluss verfügen, sind ausgewandert.

Hindernis ist nicht nur das Fehlen der Elite, sondern auch der Mangel an funktionierenden staatlichen Strukturen. So sind heute mindestens 80 Prozent der Wirtschaftstätigkeit ohne klare rechtliche Grundlagen. Größte Devisenquelle Haitis sind die Überweisungen von Familienangehörigen im Ausland, mit 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich, fast das Zehnfache der Exporteinnahmen.

Boulos, der hemdsärmlige Star-Unternehmer aus Not, will sich nicht abschrecken lassen: "Ich weiß nicht, wo wir in zehn Jahren stehen.
Ich bin aber überzeugt, es wird besser sein."