Das Turiner Grabtuch zwischen Glaube und Wissenschaft

"Ein rührendes Zeichen der Schmerzen Jesu"

Das Turiner Grabtuch, das zuletzt 2000 zu sehen war, zieht die Menschen in seinen Bann wie kaum eine andere Reliquie. Zur öffentlichen Ausstellung seit Samstag haben sich bislang schon rund 1,4 Millionen Besucher aus aller Welt angemeldet, aus Deutschland sind es rund 11.000. Ein Erklärungsversuch.

Autor/in:
Thomas Jansen
 (DR)

Turin wirkt auf den ersten Blick nicht wie eine Stadt, hinter deren Mauern sich eines der größten Rätsel der Menschheit verbirgt. Wie auf einem Schachbrett teilen die Verkehrsadern die Quartiere in Quadrate. Vor der Reißbrettkulisse der norditalienischen Industriestadt erscheint jenes mysteriöse Stück Stoff, das in einer Seitenkapelle des Doms aufbewahrt wird, wie ein Fremdkörper: das Grabtuch von Turin. Von vielen Katholiken als Reliquie Christi verehrt, zeigt das 437 Zentimeter lange und 111 Zentimeter breite Leinen Antlitz und Körperumrisse eines gefolterten und gekreuzigten Mannes.

Insgesamt werden in den kommenenden sechs Wochen bis zu zwei Millionen Gäste erwartet. Der berühmteste Pilger ist Papst Benedikt XVI., der am 2. Mai vor dem Grabtuch beten und meditieren will.

Eine mittelalterliche Fälschung?
Hat sich auf diesem Stück Stoff tatsächlich ein naturgetreues Porträt Jesu erhalten? Wie ist der Abdruck auf das Gewebe gelangt? Oder handelt es sich um ein Gemälde, um eine mittelalterliche Fälschung?

Die Frage, was das Leinen von Golgatha mit dem Grabtuch von Turin verbindet, hat im 20. Jahrhundert eine leidenschaftliche Debatte ausgelöst. Chemische Analysen und physikalische Untersuchungen, fromme Überzeugungen und weltanschauliche Vorurteile prallten aufeinander. Die Ursprünge des Leinens liegen im Dunkeln. Nach Ansicht einiger Fachleute soll es identisch mit dem Abgar-Tuch sein, das in Spätantike und Mittelalter im südanatolischen Edessa verehrt wurde. Dieses Leinen gelangte später nach Konstantinopel und verschwand dort während der Plünderung der Stadt durch die Kreuzfahrer 1204. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird es in Frankreich erwähnt. Seit 1578 befindet sich das Grabtuch dauerhaft in Turin.

Am Anfang stand ein Foto
Am Anfang der wissenschaftlichen Erforschung des Grabtuchs stand ein Foto. In der Dunkelkammer sah der italienische Hobbyfotograf Secondo Pia 1898 das Negativbild, das deutlich die Gesichtszüge eines Mannes im mittleren Alter zeigte. Der Körper wies Spuren zahlreicher Verwundungen auf, die zu der von den Evangelien beschriebenen Geißelung, der Dornenkrone und dem Lanzenstich passten. Die Wissenschaftler blieben jedoch zunächst skeptisch.

Physiker, Chemiker und Biologen untersuchten das Leinen in der Folgezeit so häufig, dass es mittlerweile als das besterforschte Stück Stoff gilt. Spuren von Pollen und Sporen verwiesen auf Pflanzen des östlichen Mittelmeerraums, das Material und seine Fertigung passten zur Zeit Christi, hieß es. Einen schweren Schlag für all jene, die von der Echtheit des Tuches überzeugt waren, stellte 1988 das Ergebnis eines Radiokarbontests dar. Wissenschaftler dreier Universitäten kamen unabhängig voneinander zum Ergebnis, dass es aus der Zeit zwischen 1260 und 1390 stamme. Aber auch dieser Befund wurde bald infrage gestellt. Das Ergebnis sei durch spätere Verunreinigungen, durch Löschwasser eines Brandes von 1532 und durch aufgesetzte Stoffflicken verfälscht worden. Das letzte Wort über das Alter des Grabtuches ist daher nach Ansicht vieler Fachleute noch nicht gesprochen.

Die Kirche schweigt
Eine offizielle Stellungnahme der katholischen Kirche zur Echtheit des Grabtuches gibt es nicht. Papst Johannes Paul II. betonte bei seinem Turin-Besuch 1998, dass die Wissenschaft über die Echtheit des Tuches entscheiden müsse. Die Kirche besitze hierfür keine «besondere Kompetenz». Der Papst rief die Forscher jedoch auf, das Tuch ohne Vorurteile zu untersuchen und die Gefühle der Gläubigen zu respektieren. Konservierungsarbeiten haben 2002 sichergestellt, dass das Leinen als Gegenstand frommer Verehrung und gelehrter Forschung noch lange erhalten bleibt. Denn, so betonte der frühere Kardinal Saldarini, das Tuch sei in jedem Fall ein «rührendes Zeichen» der Schmerzen Jesu am Kreuz - ob es nun echt sei oder nicht.