Spaziergang durch eine Weltstadt zwischen zwei Welten

Abenteuer Istanbul

In wenigen Tagen sind Essen und die Ruhrregion "Kulturhauptstadt". Aber nicht alleine, auch Istanbul wird den Titel tragen. Dabei kann die türkische Metropole eigentlich keine anderen Kulturhauptstädte neben sich haben. Eine Liebeserklärung von Alexander Brüggemann.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
 (DR)

Die Hauptstadt zweier Weltreiche. Schauplatz der Entscheidungsschlacht zwischen Christentum und Islam. Brückenkopf zwischen zwei Erdteilen, Europa und Asien. Brodelnde Metropole für 10, 12, 15 Millionen Bewohner - wer will ihre Zahl kennen? Istanbul ist nominell die zweite Stadt der Türkei hinter Ankara, der 1923 verordneten Hauptstadt der neuen Republik. Und doch sagt ein türkisches Spottwort: "Das schönste an Ankara ist die Autobahn nach Istanbul."

Istanbul: Hier muss es gewesen sein, wo der Verkehrsstau erfunden wurde. Die Marktschreierei. Hier liegt womöglich der Ursprung der Gerüche und der Farben. Istanbul ist ein Chaos. Aber was für eine Vielfalt; was für ein Reichtum an Kulturgütern, kulturellen Einflüssen und Lebensweisen. Fest für die Sinne, eine westöstliche Metropole, die alles hat: Nightlife und Dorfidyll, Tosen und Säuseln, Luxus und Elend, Fisch und Fußball, Geschichte und Geschichten.

Mittags vor der Taubenmoschee erhebt sich der Trubel zur Kakophonie:
Händler rufen, Menschen in Trauben, elegante, verschwitzte, verschleiert oder unverschleiert. Daneben wälzt sich der Autoverkehr über die Galatabrücke, die dicke Ader am Goldenen Horn hinüber zum nördlichen Ufer. Und plötzlich schwillt über dem neurotischen Hupen der Taxis dutzendfach der Gebetsruf der Muezzine von zahllosen Minaretten.

Das Stadtbild ist vom Islam geprägt
Istanbuls Stadtbild ist vom Islam geprägt, allem verordneten Laizismus zum Trotz. 99 Prozent der Türken sind Muslime. Blaue Moschee, Süleymaniye und Hagia Sophia, jener oft verwandelte Tempel der "Heiligen Weisheit": Pflichtprogramm jedes Kulturreisenden. Doch für den lebendigen Islam ist man in diesen überwältigenden Räumen nicht unbedingt an der richtigen Adresse. Den findet man besser in Eyüp am Nordende des Goldenen Horns, der heiligsten Stätte der Stadt, die für islamgläubige Türken gleich hinter Mekka, Medina und Jerusalem kommt. Hier wird das Grab von Abu Eyub Ansari, dem Standartenträger des Propheten, verehrt. Seine Entdeckung im Jahr 1453, unmittelbar nach der muslimischen Eroberung, stellte die 1.000-jährige christliche Metropole und neue Hauptstadt des Osmanischen Reiches in direkte Tradition mit Mohammed.

Hier in Eyüp ist Istanbul nicht westlich, nicht kosmopolitisch, grell, mit kurzen Röcken, auf Vergnügung und Tempo aus. Hier ist es fromm, anatolisch, trägt Kopftuch - und ist gleichwohl mächtig bunt. Zum Freitagsausflug wie zur Pilgerfahrt nach Eyüp gehört ein Spaziergang durch die benachbarten Gräberfelder. Ziel ist das Cafe "Pierloti", das den Namen eines französischen Literaten trägt: Pierre Loti, eigentlich Julien Viaud (1850-1923), traf sich hier in den 1870er Jahren heimlich mit seiner orientalischen Liebe Aziyadeh. Ein Caj, traditioneller Tee im kelchförmigen Glas, muss hier sein. Auf dem Rückweg ins Stadtzentrum empfiehlt sich ein Halt am abseits gelegenen Chora-Kloster (Kariye Müzesi), einmalig mit seinem Bildprogramm byzantinischer Goldmosaiken.

Die Bedeutung der Lebensmittel
Große Bedeutung hatte seit jeher die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln. Grundlegend ist bis heute der Fischfang. Fischerboote, Fischlokale tragen zum malerischen Istanbul bei. Ein morgendlicher Besuch beim Fischmarkt im einstigen Armenier-Viertel Kumkapi lohnt sich. Hier wird frisch, dekorativ und appetitlich dargeboten, was zwei Meere liefern. Der Wasseraustausch zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer, der in der Enge des Bosporus für tückische Strömungen sorgt, hat als positive Folge einen enormen Fischreichtum. So war die Stadt selbst durch harte Belagerung nie ganz auszuhungern.

Wer die Touristenströme hinter sich lassen und mehr Gemächlichkeit schnuppern will, der sucht sein Heil in Asien. Fährschiffe bringen täglich Zehntausende Menschen von einem Kontinent zum anderen - für kleines Geld, das in keinem Verhältnis zum Unterhaltungswert steht: Für Panoramen, wie sie die Überfahrt nach Üsküdar, Kuzguncuk oder Kadiköy bieten, müsste man andernorts viele Euros hinzählen.

Viel zu entdecken gibt es in Pera, dem alten Viertel der Genueser nördlich des Goldenen Horns. In den Seitenstraßen der Flaniermeile Istiklal Kaddesi verbergen sich tanzende Derwische und mondäne Boutiquen, jüdische Synagogen, katholische Kirchen, Botschaftsgebäude, Jugendstilhäuser aus der späten Sultanzeit, Jazzbars, Szeneclubs und allerlei Bauernfänger. Aus alledem ragt der mittelalterliche Galataturm heraus und gewährt einen der schönsten Blicke über die Stadt.

Wer am Ende des Tages genug hat vom Pflastertreten oder vom Feilschen im Labyrinth des Großen oder des Ägyptischen Basars, der besucht ein Dampfbad (Hamam). Noch etwa ein Dutzend von einst Hunderten der früher vorgeschriebenen Ritualbäder ist in Betrieb. Wer die Scheu des Westlers vor dem unbekannten Orient überwindet, kommt als neuer Mensch heraus - und ist bereit für ein neues Abenteuer Istanbul.