Der ständige Kampf der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial

Gegen das Vergessen

Es ist der 15. Juli 2009. Natalja Estemirowa, Menschenrechtsaktivistin bei Memorial in Tschetschien, ist auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft. Plötzlich hält ein Auto neben ihr, Unbekannte zerren sie in den Wagen und entführen sie auf offener Straße. Stunden später wird Estemirowa in einem Waldstück in Inguschetien gefunden - tot. Der Leichnam weist Schusswunden in Kopf und Brust auf. Der Mord an Estemirowa ist auch Monate nach der Tat nicht aufgeklärt.

Autor/in:
André Ballin
 (DR)

Oleg Orlow, Leiter des Menschenrechtszentrums «Memorial», gibt Tschetscheniens Präsidenten Ramsan Kadyrow die Schuld am Mord. Der diktatorisch regierende Kadyrow, der Estemirowa mehrfach bedroht und verhöhnt haben soll, fühlt sich dadurch beleidigt und verklagt Orlow und Memorial auf umgerechnet 230.000 Euro Schmerzensgeld. Das Gericht senkt am Ende die Summe schließlich auf 1.600 Euro, gibt Kadyrow aber prinzipiell Recht.

Die Episode zeigt, wie schwer es Menschenrechtler derzeit in Russland haben, zu arbeiten und sich Gehör zu verschaffen. Doch die Aktivisten geben nicht auf: Memorial führt bereits seit 20 Jahren den Kampf für Menschenrechte und die Aufarbeitung des sowjetischen Totalitarismus - oft im Konflikt mit den Herrschenden. Für ihren Einsatz zeichnet das EU-Parlament die Memorial-Aktivisten in diesem Jahr mit dem Sacharow-Preis für Menschenrechte aus.

Begonnen hat die Geschichte von Memorial Ende der 80er Jahre.
«Damals waren die Menschen absolut enttäuscht vom kommunistischen Modell», erinnert sich Boris Belenkin, Vorstandsmitglied bei Memorial. Viele wollten endlich die Wahrheit über die Verbrechen der Sowjetzeit erfahren, und die gerade vom Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gegründete Organisation Memorial war dafür die zentrale Anlaufstelle.

Sacharow war als Nuklearforscher nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe beteiligt. Später jedoch wandte er sich mehr und mehr von der Sowjetführung ab und wurde als Dissident nach Gorki (heute Nischni Nowgorod) verbannt. Erst während der Perestroika unter Michail Gorbatschow konnte er wieder in Moskau politisch aktiv werden. Mit der Gründung von Memorial sollte vor allem die sowjetische Vergangenheit aufgearbeitet werden.

Diese Aufgabe ist auch heute noch aktuell: «Auch die Kinder der Opfer wollen die Wahrheit wissen. Sie brauchen menschliche und psychologische Hilfe, die sie vom Staat nicht bekommen», sagt Belenkin. Soziale Hilfe ist daher ein weiterer Aspekt der Memorial-Arbeit. Zudem äußert die Organisation immer wieder Kritik an aktuellen Menschenrechtsproblemen in Russland. Dabei wird sie unter anderem von der Heinrich-Böll-Stiftung finanziell unterstützt.

Memorial ist eher ein soziales Netz als eine straff geführte Organisation. Sie vereinigt rund 80 unabhängige Bewegungen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (etwa 60 davon in Russland). In der Kaukasus-Republik Tschetschenien war Memorial jahrelang eine der wenigen unabhängigen Anlaufstellen für Opfer von Folter und Entführungen.

Die Arbeit von Memorial wird durch viele Auflagen der Behörden erschwert. Seitdem das neue Gesetz für nichtstaatliche Organisationen in Russland vor über zwei Jahren verabschiedet wurde, musste Memorial zahlreiche Kontrollen über sich ergehen lassen. Vor allem die kleineren Niederlassungen in den russischen Regionen, die sich keine professionelle Buchhaltung leisten können, haben darunter zu leiden.
Einige mussten geschlossen werden.

Das Memorial-Büro in Tschetschenien wurde nach dem Mord an Estemirowa ebenfalls geschlossen. Es sei immer noch zu gefährlich dort zu arbeiten, erklärte Orlow niedergeschlagen. Doch auch ohne Büro in Grosny werde die Menschenrechtsorganisation die Lage in der Kaukasus-Republik weiter beobachten, verspricht er.