Historiker untersucht Vertriebenendenkmäler in Deutschland

Erinnerungskämpfe und Opferkonkurrenz

Mehr als 1.400 Denkmäler zum Thema Flucht und Vertreibung gibt es nach Angaben des Bundes der Vertriebenen (BdV) in Deutschland.

 (DR)

Entstehung, Wandlung und Wirkung dieser Erinnerungsorte untersucht der Oldenburger Historiker Stephan Scholz (38) jetzt in einem neuen Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Freitag in Oldenburg spricht der Wissenschaftler über Opferkonkurrenz, den 70. Jahrestag des Weltkriegsbeginns und das geplante Berliner "Zentrum gegen Vertreibungen".

KNA: Herr Scholz, wie kam es zu Ihrem Forschungsprojekt?

Scholz: Auslöser war eine Debatte um ein Vertriebenendenkmal, die 2005 in Oldenburg begann. Die Befürworter behaupteten, es gebe hier noch kein solches Denkmal. Tatsache war jedoch, dass es das schon seit 1957 gibt, aber weitgehend unbemerkt ist. Das lief sehr ähnlich wie die Diskussion um das «Zentrum gegen Vertreibungen» in Berlin:
Der BdV sagt, Flucht und Vertreibung seien jahrelang in Deutschland Tabuthemen gewesen, deshalb wollen sie jetzt mit dem Zentrum ein Zeichen setzen. Dabei dokumentiert der Verband selbst die Existenz von 1.400 Denkmälern in Deutschland, die aber merkwürdigerweise im öffentlichen Bewusstsein kaum vorhanden sind. Das war der Ausgangspunkt des Projekts.

KNA: Damit widerlegen Sie also den BdV?

Scholz: Es geht mir nicht darum, den BdV zu widerlegen. Fest steht aber, dass das Thema Flucht und Vertreibung immer eine Rolle gespielt hat in der Literatur, in Spielfilmen und generell in der Erinnerungskultur der Deutschen. Meine Forschungen sind ein weiterer Beleg dafür, dass diese Behauptung, es sei ein Tabu gewesen, nicht zutrifft.

KNA: Wie entwickelt sich die Zahl der Denkmäler nach dem ersten Boom der 1950er Jahre?

Scholz: In den nächsten beiden Jahrzehnten ebbt das etwas ab, weil sich das öffentliche Gedächtnis eher mit den Verfolgten des Nationalsozialismus beschäftigt. Aber interessanterweise haben sie in den 1980er Jahren wieder Konjunktur. Da sind mehr Denkmäler errichtet worden als in den beiden Jahrzehnten vorher zusammen, was wohl eine Folge des politischen Klimas der "geistig-moralischen Wende" unter Helmut Kohl ab 1982 ist. Auch hat die CDU-FDP-Regierung die finanzielle Förderung für die Vertriebenenverbände massiv erhöht. Diese Tendenz nimmt in den 1990ern wieder ab, was erstaunlich ist, weil das Thema nach den Jugoslawienkriegen und der Wiedervereinigung im öffentlichen Diskurs wieder größeren Raum einnahm.

KNA: Gibt es einen Wandel in Gestalt und Nutzung?

Scholz: Es sind fast durchgängig sehr schlichte Gedenksteine, Kreuze, in Norddeutschland oft Findlinge. In den 1950er Jahren, als Vertriebene sie in Ermangelung von Gräbern ihrer Angehörigen als Ersatzorte zum Totengedenken nutzten, wurden die Mahnmale zusehends auch politisch besetzt. BdV und Kommunen machten anhand der Denkmäler deutlich, "wir verzichten nicht auf diese Gebiete". Die Vertriebenenmahnmale wurden Orte des praktizierten Revisionismus. Dieser Trend hielt an bis zur neuen Ostpolitik von Willy Brandt in den 1970er Jahren. Doch spätestens seit dem Mauerfall ist die Wiedererlangung alter Gebiete kein Thema mehr.

KNA: Gibt es solche Denkmäler in Ostdeutschland?

Scholz: Erst seit den 1990er Jahren, denn in der DDR war es nicht möglich, Vertriebenendenkmäler aufzustellen. Die Umsiedlung, wie es in der DDR genannt wurde, galt als frühzeitig abgeschlossen und sollte gesellschaftlich kein Thema sein.

KNA: Welche Rolle spielen Standorte?

Scholz: Um Standort und Größe von Denkmälern werden oft geradezu Erinnerungskämpfe ausgetragen. Das Vertriebenendenkmal in Oldenburg etwa wurde sinnigerweise 1957 direkt neben den Ort gebaut, wo in der Pogromnacht 1938 die frühere Synagoge niedergebrannt worden war. Darüber hat sich damals keiner aufgeregt. Erst zehn Jahre später hat man direkt daneben einen Gedenkstein für die ermordeten Juden gestellt. Zu diesem Zeitpunkt beantragte der BdV, sein Mahnmal zu vergrößern, so dass dieser Ort eindeutig dominiert worden wäre vom Vertriebenendenkmal. Da ging es um eine Art Opferkonkurrenz, die anhand dieser Denkmäler ausgetragen wird. Der Antrag wurde abgelehnt.

KNA: Haben Sie Beispiele von Protesten gegen die Denkmäler?

Scholz: In Freiburg zum Beispiel wurde 1965 ein Vertriebenendenkmal in Form eines Hinweisschildes mit der Aufschrift "Breslau, Karlsbad, Königsberg" usw. aufgestellt. Das hat jemand abmontiert, mit den Namen von Konzentrationslager wie «Auschwitz, Treblinka» übermalt und wieder aufgestellt. Das ist ein Zeichen dafür, dass hier gesellschaftlich ein Bewusstsein für diese Seite der Geschichte entstand.

KNA: Am 1. September jährt sich der Einmarsch deutscher Truppen in Polen zum 70. Mal. Welche Rolle spielen Vertriebenendenkmäler beim Gedenken an den Zweiten Weltkrieg?

Scholz: Richard von Weizsäcker hat in einer bedeutenden Rede einmal gesagt, dass die Ursachen für Flucht und Vertreibung nicht am Ende, sondern am Anfang des Krieges zu suchen seien. Das ist eine sehr wichtige Feststellung, die in den Vertriebenendenkmälern aber in der Regel nicht berücksichtigt wird. Da beginnt die Geschichte von Flucht und Vertreibung meistens ganz plötzlich im Jahr 1944, ohne dass der Zweite Weltkrieg als Hintergrund überhaupt erwähnt wird.
Das kann das Geschichtsbild dann schon verzerren.