SPD-Vize Andrea Nahles im Interview zum Thema Spätabtreibung und ihrem Glauben

Behindertes Leben als gleichwertiges Leben

Heute wird der Bundestag voraussichtlich über die künftige Beratung von Schwangeren vor einer Spätabtreibung entscheiden. Im domradio-Interview erklärt Andrea Nahles, stellvertretende Vorsitzende der SPD, warum sie entgegen der Mehrheit in ihrer Partei für eine Beratungspflicht ist und welche Rolle dabei ihre christlicher Glaube spielt.

 (DR)

domradio: Einig sind sich beide Gruppen darin, dass die psychosoziale Beratung für Schwangere verbessert werden muss. Worin liegt der Unterschied der beiden Anträge?
Nahles: Der Entwurf von Griese-Singhammer-Lenke, den auch ich unterstütze, sagt: Der Arzt, der eine Diagnose während der Schwangerschaft feststellt, wird verpflichtet, ein Angebot zur aktiven Mitarbeit zu gestalten. Es soll nicht bei der Verteilung von Infomaterial bleiben. Und nach der Diagnose soll es nach unserem Antrag eine Mindest-Bedenkzeit von drei Tagen geben.

domradio: Warum braucht es diese Frist? Lassen Eltern ohne darüber nachzudenken einen Abbruch vornehmen?
Nahles: Es gibt erst einmal einen Schockzustand. Der ist wie eine Druckschleuse. Auch wenn diese Kinder eigentlich Wunschkinder sind, werden vierzig Prozent der Schwangerschaftsabbrüche in den ersten drei Tagen nach der Diagnose vorgenommen. Die Vorstellung, dass innerhalb dieser kurzen Zeit die Vorstellung eines Wunschkindes aufgegeben werden kann und Abschied genommen wird, ist für mich nicht realistisch. Mit dieser Entscheidung muss man ein Leben lang zurechtkommen. Wir wollen ein Fenster öffnen für eine psychosoziale Beratung. Auch um einen Abschied von der Vorstellung eines gesunden Wunschkindes zu erarbeiten.

Domradio: Die Koalition streitet seit Jahren über das Thema Spätabtreibungen. Wird es ihrer Meinung nach heute eine Einigung geben?
Nahles: Eine Einigung wird es nicht geben. Aber eine Mehrheit kann es für den Entwurf von Griese-Singhammer-Lenke geben. Weil sich derzeit eine gruppenübergreifende und franktionsübergreifende Mehrheit abzeichnet. Es gab aber noch eine Reihe von Abgeordneten, die sich bis zum Schluss sehr unsicher waren und keinen der Anträge unterstützt haben. Man muss abwarten, wie sich die Meinungen heute entwickeln.

Domradio: Erst am Wochenende haben sie sich in einem Zeitungsinterview offen zu ihrem christlichen Glauben geäußert. Welche Rolle bei dieser Entscheidung heute spielt ihr Glaube?
Nahles: Der christliche Glaube dominiert insbesondere meinen Umgang und die Wertigkeit behinderten Lebens. Das spielt hier eine besondere Rolle, die oft nicht erwähnt wird. Wir haben eine Abwägung zu treffen: Kann man in unserer Gesellschaft das Leben mit behinderten Kind bewältigen, traut man es sich zu? Wie gehen andere damit um? Hier geht es darum, das behinderte Leben als gelingendes Leben, als gleichwertiges Leben zu betrachten. Da ist für mich eine sehr christliche Motivation, mich hier einzumischen, anders als die Mehrheit meiner Fraktion.