Religionswissenschaftlerin Karénina Kollmar-Paulenz im Interview zur Bedeutung des Dalai Lama

"Doktrin der absoluten Gewaltfreiheit greift nicht mehr"

Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass ein Aufstand der Tibeter in Lhasa und seine blutige Niederschlagung durch die chinesischen Kommunisten mehr als 86.000 Tote forderte. Seitdem lebt der 14. Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt der Tibeter, im Exil im indischen Dharamsala. Etwas 3.000 tibetische Klöster wurden enteignet und China werden immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Ein Interview mit Karénina Kollmar-Paulenz, Religionswissenschaftlerin an der Universität Bern und Tibet-Expertin.

 (DR)

domradio: Bis heute lebt der Dalai Lama im Exil, und eine Veränderung ist nicht Sicht. Welche Bedeutung hatte seine damalige Ausreise für den Buddhismus, welche für Europa?
Kollmar- Paulenz: Für den Westen war die Ausreise des Dalai Lama eine Bereicherung, für die Tibeter jedoch sehr tragisch. Der Westen erhielt erstmals Zugang zum Buddhismus, Gespräche mit Mönchen wurden möglich. Die Inhalte des Buddhismus, wie zum Beispiel die Religion der Weisheit und der Stille, spiegeln sich im Dalai Lama wider und das hat mitunter zu einer großen Popularität geführt.

domradio: Gerade in Deutschland erfreut sich der 14. Dalai Lama großer Beliebtheit. Politiker wie der hessische Ministerpräsident Roland Koch empfangen ihn medienwirksam immer wieder gerne. Er entspricht dem typischen von Medien so sehr geliebten Image des "Gutmenschen". Wird das auch durchaus bewusst als Strategie angewandt?
Kollmar- Paulenz: Ich denke schon. Der Dalai Lama hat sich selber in seiner Sicht der tibetischen Geschichte und der Wahrnehmung des Buddhismus sehr an westliche Rezeptionsstränge angepasst. Der Buddhismus steht beispielsweise unter anderem für die Religion der Rationalität, das stellt der Dalai Lama stark in den Vordergrund. Damit bedient er unsere Wahrnehmung dieser Religion.

domradio: Beobachter sprechen davon, dass dem Dalai Lama - inzwischen 76jährig und nicht mehr bei bester Gesundheit - der Einfluss in Tibet auf die nachwachsende Generation verloren geht. Können Sie das bestätigen?
Kollmar- Paulenz: Als religiöses Oberhaupt, religiöse Autorität geht ihm der Einfluss sicherlich nicht verloren. Was man aus Tibet hört, ist er dort auch in diesem Sinne respektiert. Aber ich denke als politische Integrationsfigur stehen seine Forderungen nicht mehr an erster Stelle. Die Doktrin der absoluten Gewaltfreiheit greift vor Ort nicht mehr. Diesen Einfluss des gewaltfreien Widerstands hat er durch die sich verschlechternde Lage in Tibet verloren. Gerade im letzten Jahr konnte man ja von tibetischer Seite andere Mittel beobachten.

domradio: Es wird ein hartes Vorgehen der chinesischen Regierung heute zum 50. Jahrestag der Revolte erwartet. Schon im vergangenen Jahr gab es im Zuge der Olympischen Sommerspiele massive Proteste der Mönche. Erwarten Sie eine ähnliche Situation, jetzt wo die Welt wieder nach Tibet schaut?
Kollmar- Paulenz: Das ist schwierig zu sagen. Soweit ich informiert bin, hat die chinesische Regierung Soldatentruppen verlegt. In autonomen Regionen Tibets und in den Brennpunkten werden Soldaten versuchen, sämtliche Proteste niederzuknüppeln.