Neue Zeugenaussage im Entführungsfall Orlandi

Geständnisse einer Ex-Geliebten

 (DR)



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Von Johannes Schidelko (KNA)

Rom (KNA) Liegt es am 25. Jahrestag oder am Sommerloch? In Italien ist einer der spektakulärsten Kriminalfälle der vergangenen Jahrzehnte wieder in die Schlagzeilen geraten: die ungeklärte Entführung der seit dem 22.6.1983 spurlos verschwundenen Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi. In dem Fall, hinter dem mal Mafia, mal die türkischen Grauen Wölfe, mal ein internationales Komplott zur Freipressung von Papst-Attentäter Ali Agca vermutet wurde, sind neue angebliche Zeugen aufgetaucht. Danach soll das Mädchen von der berüchtigten römischen Magliana-Bande entführt, kurz darauf ermordet und in einer Neubausiedlung im Südosten Roms einbetoniert worden sein.

Das zumindest behauptete jetzt die Ex-Geliebte des früheren Unterwelt-Bosses Enrico de Pedis, Sabrina Minardi, in einer Vernehmung, über die die italienische Tageszeitung «Il Messaggero» berichtete. Sie selbst habe die junge Frau überredet, in ihr Auto zu steigen und sie dann der Bande übergeben, die damit den Vatikan erpressen wollte, behauptet Minardi der Zeitung zufolge.

Dabei verwies sie auf Verbindungen ihres damaligen Lebensgefährten zum früheren Vatikanbank-Chef Erzbischof Paul Marcinkus, der möglicherweise sogar hinter der Entführung gestanden haben könnte.
Schon damals, schreibt das Blatt jetzt, sei die Polizei der Frau als Halterin des Tatfahrzeugs auf der Spur gewesen. Aber der vernehmende Beamte sei von seinem Vorgesetzten zurückgepfiffen worden; die Frau stehe unter dem Schutz einer hochgestellten Persönlichkeit. Diese Spur wurde nicht weiterverfolgt.

Die angeblichen Enthüllungen sorgen in der italienischen Öffentlichkeit für Verwirrung. In einer ungewöhnlich scharfen Note wandte sich Vatikansprecher Federico Lombardi gegen die Art der Berichterstattung. Er sprach von einer «äußerst zweifelhaften Zeugenaussage» zu Lasten des 2006 verstorbenen Marcinkus. Man wolle sich nicht in italienische Ermittlungen einmischen, bedauere aber Sensationsjournalismus auf Kosten der Seriosität und der journalistischen Ethik - und zu Lasten der leidgeprüften Familie Orlandi.

Die Familie selbst bezeichnete die Aussage von Frau Minardi als unglaubwürdig. Sie ist weiterhin überzeugt, dass Emanuela noch lebt und möchte auf jeden Fall ihr Verschwinden aufklären.

Der Entführungsfall Orlandi hat wie kaum ein anderer in den letzten
25 Jahren die Italiener immer wieder beschäftigt. Er sorgte erstmals für Schlagzeilen, als Papst Johannes Paul II. in einem öffentlichen Appell die Freilassung des Mädchens fordert. Er wurde zum Politikum, als er mit dem Papst-Attentat in Verbindung gebracht wurde. Eine «anti-christliche türkische Befreiungsfront» forderte die Freilassung Agcas. Der damalige Kardinal-Staatssekretär Agostino Casaroli nahm sich persönlich der Sache an und hielt sich stundenlang für Telefonanrufe der Entführer bereit.

Schließlich verschwand der Fall aus den Medien, um seither etwa alle sechs Monate mit neuen Enthüllungen wieder aufzutauchen. So behauptete Ali Agca 1989 in seinen Memoiren, dass das Mädchen nach Liechtenstein verschleppt worden sei. In späteren Vernehmungen erklärte er, sie lebe in der Türkei, im Nahen Osten. 1995 meldete der «Messaggero», sie sei mit einem fünfjährigen Kind in Süditalien.

Auch nach der angeblichen Enthüllung von Frau Minardi bleibt der Fall mysteriös. So mysteriös, wie das Ende ihres Lebensgefährten: De Pedis wurde 1990 in Rom auf offener Straße erschossen - und fand seine letzte Ruhestätte im Marmor-Sarkophag einer römischen Altstadtkirche. Ein Privileg, das sonst nur Bischöfen vorbehalten ist.