Auf der Suche nach Ursachen - Leistungsdruck und fehlende Beziehungen

Schüler laufen Amok

Innerhalb nur weniger Tage gab es an fünf Bildungseinrichtungen ernste Anzeichen für mögliche Amokläufe. Gymnasien sind besonders betroffen. Die Gewerkschaft für Bildung und Erziehung (GEW) macht den enormen Leistungsdruck der Schüler mitverantwortlich.
Auch Lehrer an Gymnasien seien einem hohen fachlichen Druck ausgesetzt, sagt dagegen Dr. Sabine Geist von der Laborschule Bielefeld im domradio-Interview. Möglicherweise ginge dabei der Blick auf das einzelne Kind etwas verloren.

 (DR)

Der Aufbau von einer Beziehung zwischen Schülern und Lehrern bräuchte Zeit, vielfach auch außerunterrichtliche Zeit, sagt Dr. Sabine Geist, stellvertretende Schulleiterin der Laborschule Bielefeld im domradio. In der Laborschule gäbe es ein ausgeprägtes Klassenfahrtenkonzept. Dort kämen die Lehrer in engen Kontakt mit den Schülern. Auch das Ganztagskonzept der Laborschule unterstütze die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, erläutert Dr. Geist. Einen Amoklauf könne man aber an keiner Schule mit Sicherheit ausschließen.

Die Schwere der Taten hat zugenommen
"Eine vollzogene Amoktat ist sehr selten", sagte Stefan Röpke, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charite. Es gebe zwar sehr wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema. Er verwies jedoch auf eine Studie, die angesichts der sozialen Brüche die letzten zehn DDR-Jahre und die 90er Jahre im vereinten Deutschland untersuchte.

"Danach hat die Zahl der Amokläufe eher abgenommen, die Schwere der einzelnen Taten aber zugenommen", erläuterte der Mediziner. Hätten die Täter früher hauptsächlich Messer bei ihren Taten genutzt, seien jetzt immer öfter Schusswaffen im Spiel. Jugendliche sähen besonders das Internet als ideale Plattform für ihre Andeutungen oder Ankündigungen. Da sie im Netz anonym agieren könnten, vermuteten sie, dass ihr Tun - ob ernst gemeint oder nur reine Prahlerei - ohne Konsequenzen bleibe. Die Hemmschwelle für solche Aktionen sinke also, so Stefan Röpke.

Sind Gymnasiasten besonders gefährdet?
Der Psychologe Scheithauers betont, dass Alltagsgewalt unter Jugendlichen meist in sozialen Brennpunkten auftrete. Geplante oder aufgedeckte Amokläufe, das habe die Vergangenheit gezeigt, seien hingegen oftmals in gutbürgerlichen Wohngegenden aufgetreten. Es könne jedoch nur spekuliert werden, ob der Leistungsdruck der überwiegend männlichen Täter und Versagensangst die Auslöser seien.

Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Klaus Jansen, forderte derweil, Gymnasien auf eine erhöhte Gefahr von Amokläufen zu analysieren. "Es muss untersucht werden, ob hier der Leistungsdruck und die Angst, abgehängt zu werden, besonders stark sind oder ob es mehr als an anderen Schulformen zu Mobbing kommt", sagte Jansen der "Passauer Neuen Presse".

Mit Blick auf den geplanten Amoklauf in Köln konstatierte Jansen jedoch auch positive Entwicklungen. "Die Sensibilität scheint zu wachsen. Die Schüler haben verstanden, wie wichtig es ist, Sicherheitsbehörden einzuschalten. Sie achten früher darauf, ob sich was zusammenbraut."

Wer kümmert sich um auffällige Schüler?
In den meisten Fällen zeigen die Jugendlichen nach Einschätzung von Psychologen ähnliche Verhaltensmuster. Sie seien beispielsweise häufig depressiv, isolierten sich weitgehend von der Klassen- und Schulgemeinschaft und hätten Interesse für Waffen, erläuterte Scheithauer. Er warnte jedoch vor Pauschalurteilen, da es auch viele Schüler mit diesen Lebensmerkmalen gebe, die zu keinen potenziellen Amoktätern würden.

Die Lehrer sollten sich aber unabhängig von irgendwelchen Ereignissen mit auffälligen Jugendlichen beschäftigen, da sie offenbar Verhaltensprobleme aufwiesen, mahnte FU-Experte Scheithauer. Dazu seien überall an den Schulen speziell ausgebildete Lehrkräfte notwendig: "Hier gibt es noch Nachholbedarf in Deutschland." Als positive Beispiele erwähnte er in diesem Zusammenhang Notfallpläne an den Schulen in Nordrhein-Westfalen und Berlin.

Bildungssystem produziert Verlierer
"Das sind Hilferufe, die uns nachdenklich machen müssen", sagte auch der GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne der Neuen Osnabrücker Zeitung. "Wir haben ein Bildungswesen, das überhaupt erst Gewinner und Verlierer produziert", sagte Thöne. Jugendliche stünden heute in einem hohen Wettbewerb untereinander. Da sei es fatal, wenn auch noch das Ausbildungssystem auslese. "Schule muss weg vom reinen Paukwissen", forderte der GEW-Vorsitzende. Jugendliche müssten soziale Kompetenzen erwerben können und bräuchten kreative Pausen. Dass Schüler und Lehrer offenbar jetzt Alarmsignale stärker wahrnähmen, sei ein Fortschritt. Doch jetzt müsse sich auch die Schulstruktur grundsätzlich ändern.

Zudem müssten Lehrer in einem ganz anderen Umfang in der Aus- und Fortbildung darauf vorbereitet werden, mit der Hilf- und Sprachlosigkeit von Schülern umzugehen. "Viel zu wenig Beachtung finden die vielen Fälle von Jugendlichen mit sozialen und psychischen Problemen, bei denen die Gewalt nicht eskaliert ist", sagte Thöne.

Trittbrettfahrer wählen Jahrestage
Nach Auffassung von Psychologen ist die Häufung der Vorfälle kein Zufall. "Die jetzt bekannt gewordenen Fälle kommen für mich nicht überraschend", sagte der Psychologieprofessor Herbert Scheithauer. Trittbrettfahrer wählten oft Jahrestage aus, weil sie von diesen Ereignissen und der Berichterstattung darüber fasziniert seien. Sie wollten auch einfach nur beobachten, was nach einer Ankündigung passiere oder erhofften sich einen Tag schulfrei.