Doris Lessing erhält Literaturnobelpreis

Epikerin weiblicher Erfahrung

Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr an die britische Schriftstellerin Doris Lessing. Als ihr Hauptwerk gilt "Das goldene Notizbuch". Der Roman wird häufig als Klassiker des Feminismus bezeichnet. Lessing distanzierte sich früh von dieser Sichtweise, so auch im großen domradio-Interview 2006.

 (DR)

Krönung der Karriere mit 87
"Ich kann mir nicht vorstellen, ohne Schreiben zu leben", sagte Doris Lessing einmal in einem Interview. "Ich habe Glück, ich musste nie in den Ruhestand gehen." Am Donnerstag wurde ihr Unruhestand nach mehreren Dutzend Büchern, darunter das von der Frauenbewegung gefeierte "Das goldene Notizbuch", und ebenso vielen Schriftsteller-Karrierejahren mit der höchsten Literaturauszeichnung der Welt gekrönt. Mit der mittlerweile 87-Jährigen erhält in diesem Jahr zum erst elften Mal überhaupt eine Frau den seit 1901 vergebenen Literaturnobelpreis.

Ob sie es geahnt hat? "Ich hatte schon immer diese Begabung zu Vorahnungen und Vorgefühlen", sagte die Autorin mit dem grauen Haarknoten jüngst der "Brigitte Woman". Auch die Schwedische Akademie lobte unter anderem ihre "visionäre Kraft". Lessing sei die "Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen" habe. Seit langem schon lebt die Schriftstellerin in London. Ganz und gar sei sie aber nie zu einer Engländerin geworden, verriet die Autorin mit dem bewegten Leben allerdings im Interview. "Ein Teil blieb fremd und Außenseiterin", betonte sie. Es sei so langweilig, in einer Welt zu leben, die völlig überschaubar geworden sei. "Ich habe mir schon immer gern fantastische Welten ausgedacht. Das bedeutet eine größere Freiheit beim Schreiben. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich einer wilderen Welt aufgewachsen bin: im südrhodesischen Busch."

Anfang der 50er Jahre der Debütroman
Geboren wurde Lessing am 22. Oktober 1919 als Tochter englischer Eltern im damaligen Kermanshah in Persien, dem heutigen Baktharan im Iran. 1925 zog die Familie ins damalige Südrhodesien, dem heutigen Simbabwe, wo sie bis Ende der 40er Jahre lebte und mit der Rassenfrage konfrontiert wurde. Das rebellische Kind Doris May Taylor heiratete 1939 einen Kolonialoffizier, aus der Ehe, die 1943 wieder geschieden wurde, gingen zwei Kinder hervor.

1945 ehelichte sie Gottfried Lessing, einen deutsch-jüdischen Emigranten, den sie in einer marxistischen Gruppe kennengelernt hatte. Vier Jahre später trennten sich die beiden, Doris Lessing zog mit dem gemeinsamen Sohn Peter nach London, in den 50er Jahren war sie Mitglied der englischen kommunistischen Partei.

"Afrikanische Tragödie" war Anfang der 50er Jahre ihr Debütroman. Afrika blieb für sie ein wichtiges Thema. Immer wieder blickt sie auch auf ihr eigenes Leben zurück, so in ihrer Autobiografie "Unter der Haut" und "Schritte im Schatten". Auch imaginären Zukunftswelten widmete sie sich in mehreren Werken. In Deutschland erschien zuletzt "Die Kluft", in Hamburg war sie jüngst zu einer Lesung.

Marcel Reich-Ranicki:  Nicht die richtige Person für den Nobelpreis
Mehrfach wurde die immens produktive Autorin ausgezeichnet. Allerdings beurteilten nicht alle Literaturkritiker die Qualität ihrer Werke gleichermaßen. So hieß es in einem Artikel der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zu ihrem 80. Geburtstag: "Lösten die meisten ihrer Bücher beim Erscheinen noch kontroverse Reaktionen aus, so hat sich mittlerweile ein freundlich-respektvoller Konsens etabliert, der die Bedeutung der erzählbessessenen Engländerin aus ihrer bewegten Biografie, ihrer rebellischen Natur und ihrer aufrechten Moralität herleitet."

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki nannte Lessing, eine angeheiratete Tante des Berliner Linkspartei-Politikers Gregor Gysi, sogar nicht die richtige Person für den Nobelpreis. Wirklich bedeutend sei kein einziges ihrer Werke. Es seien alles "brave sozialkritische" Bücher.

Lessing selbst räumte in der "Brigitte Woman" ein, ihre Energie sei vollständig weg. Früher habe sie mal in einem Jahr und drei Monaten vier Bücher geschrieben. Dies sei heute unvorstellbar.