SPD kritisiert die Sicherheitspolitik der Union - Koalition in Bedrängnis

"Demarkationslinie" überschritten?

Die Kritik der SPD am Verhalten der Union in der Sicherheitsdebatte wird immer heftiger. Vizekanzler Franz Müntefering sagte am Mittwoch, Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) habe mit seinen Äußerungen zum Abschuss entführter Passagiermaschinen eine "Demarkationslinie" überschritten. SPD-Rechtsexperte Klaus Uwe Benneter warf Jung und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) vor, das Koalitionsklima zu vergiften. Juso-Chef Björn Böhning forderte Jungs Rücktritt.

 (DR)

Die "Passauer Neue Presse" (Mittwochausgabe) berichtete, Schäuble wolle per Grundgesetzänderung den Abschuss entführter Passagierflugzeuge ermöglichen. Der Bundestag wollte am Mittwochnachmittag über Jungs Äußerungen debattieren.

Jung hatte angekündigt, entführte Passagiermaschinen, die zu Terrorangriffen verwendet werden könnten, auch ohne gesetzliche Grundlage abschießen zu lassen zu lassen und sich dabei auf einen "übergesetzlichen Notstand" berufen.

Müntefering sagte dazu: "Das geht so nicht. Darüber muss intern gesprochen werden." Zu Schäubles Warnungen vor einem atomaren Terrorangriff sagte Müntefering: "Ich bin nicht glücklich über diese Art und Weise des Umgangs mit einer solch ernsten Thematik." Schäuble hatte gesagt, viele Fachleute seien überzeugt, dass es nur noch darum gehe, wann solch ein Anschlag komme und nicht mehr, ob es dazu komme. Die Bürger sollten sich die verbleibende Zeit aber nicht mit Weltuntergangsstimmung verderben. Müntefering sagte, das könne man nicht auf sich beruhen lassen. Darüber müsse gesprochen werden. "Wenn Wolfgang Schäuble etwas weiß, muss er informieren und zwar intern. Die Mitglieder der Regierung und der Fraktionsspitzen müssen eine Information erhalten, über das, was da gewusst oder vermutet wird", forderte er.

Benneter sagte: "Eine Koalition wird keine gute Arbeit leisten, wenn einzelne Minister mit Provokationen die Stimmung vergiften." Die SPD reiche Jung nicht die Hand zu verfassungswidrigen Überlegungen. Schäuble rede von irgendwelchen Anschlägen mit Nuklearmaterial, um der Bevölkerung dann gleich wieder zu sagen, sie solle den Rest ihrer Lebenszeit fröhlich verbringen. "Wie ein Bundesminister solchen Unsinn nüchtern von sich geben kann, ist mir schleierhaft", sagte Benneter. Schäuble verbreite Angst, aber keine Sicherheit.

Böhning verlangte, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) müsse deutlich machen, dass ihre Minister auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Jung sei wegen seiner Äußerungen nicht mehr tragbar. "Er sollte seinen Hut nehmen", forderte Böhning.

Der frühere Bundesverfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch wies darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht untersagt habe, ein Gesetz zu erlassen, das einen Abschuss entführter Zivilflugzeuge vorsieht. Wenn es aber kein Gesetz gebe, müsse der Verteidigungsminister selbst entscheiden, ob er einen solchen Befehl erteilen wolle. Er mache sich dann "zunächst strafbar", aber entschuldige sich zugleich mit Hinweis auf einen "übergesetzlichen Notstand".

Die "Passauer Neue Presse" berichtete, Schäuble habe einen Katalog von Formulierungsvorschlägen für eine Änderung des Grundgesetzes vorbereitet. Danach solle durch eine Ergänzung des Artikels 87a, der die Aufgabe der Streitkräfte regelt, der Bundeswehreinsatz im Inland "in ganz außerordentlichen Extremsituationen" ermöglicht werden, und zwar "auch dann, wenn Tatunbeteiligte mitbetroffen wären". Damit wäre auch der Abschuss von Passagiermaschinen möglich. Das Bundesinnenministerium argumentiere, die Gefahrensituation sei mit dem "klassischen Verteidigungsfall" vergleichbar und erlaube es daher auch, militärische Mittel einzusetzen. Schäuble wolle per Grundgesetzänderung erreichen, dass der Abschuss von Passagiermaschinen "im Fall der Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind" in Ausnahmefällen möglich sein soll. Zu dieser "solidarischen Einstandspflicht" habe das Bundesverfassungsgericht noch nicht abschließend Stellung genommen.