Barbara Schock-Werner wird 60 - domradio gratuliert

Frau Dombaumeister, eine "WageMutige"

Die Tochter eines schwäbischen Handwerkerehepaars durchlief das deutsche Bildungssystem "diagonal" und habilitierte sich, ohne jemals Abitur gemacht zu haben. Ihre handwerkliche Ausbildung qualifizierte sie für die Leitung der traditionsreichen Bauhütte des Kölner Doms - als erste Frau. Am Montag wird Barbara Schock-Werner 60. domradio gratuliert - mit einem ausführlichen Portrait aus Dieter Wunderlichs Sachbuch "WageMutige Frauen".

 (DR)

Das 286 Seiten starke Buch mit Portraits insgesamt 16 außergwöhnlicher Frauen ist 2004 erstmalig im Verlag Friedrich Pustet 2004 erschienen. Dort ist es inzwischen vergriffen. Dafür erscheint es Anfang 2008 als Taschenbuchausgabe im Piper-Verlag. Mehr Informationen zu Autor Dieter Wunderlich finden Sie auf seiner Homepage.

Außerdem: Hören Sie ein Audio-Portrait von domradio-Redakteur Johannes Schröer.

Schwäbische Handwerkerfamilie
Im Alter von zweiunddreißig Jahren kehrt der Gebirgsjäger Reinhold Werner 1946 aus russischer Kriegsgefangenschaft zu seiner zwei Jahre jüngeren Frau Anneliese und der fünfjährigen Tochter Suse in den Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt zurück. Als Symbol dafür, dass er den Krieg überlebte, betrachtet er seine am 23. Juli 1947 in der Klinik von Ludwigsburg geborene zweite Tochter Barbara.

Seine tatkräftige Frau wäre gern Ingenieurin geworden, aber in den Dreißigerjahren galten ein technisches Studium im Allgemeinen und der Ingenieurberuf im Besonderen als Männerdomäne. Stattdessen erlernte sie das Schneiderhandwerk und machte die Meisterprüfung, obwohl sie ausschließlich für die Familie und Bekannte nähte und auch gar nicht vorhatte, einen Betrieb zu eröffnen. Sie suchte einfach die Herausforderung und sah in dem Meisterbrief wohl auch eine Kompensation für den unerreichbaren Ingenieurtitel.

Mit schwäbischem Fleiß und Freude am Austüfteln von technischen Verbesserungen bringt es Reinhold Werner zum Feinmechanikermeister. In seiner Freizeit arbeitet er am liebsten im Garten. Untätig in der Stube zu sitzen liegt ihm nicht; da wird er unruhig und prüft zum Beispiel, ob nicht vielleicht irgendwelche Schrauben nachzuziehen sind. Sobald er an den Zimmerwänden auch nur die Spur einer Verschmutzung entdeckt, besorgt er Farbe. Einen Maler kann er sich sparen, denn Anstreichen und Tapezieren hat ihm sein Vater beigebracht, der ein Malergeschäft besitzt. Sobald Reinhold Werner sich Ferien leisten kann, fährt er mit seiner Familie in die Alpen und bringt Barbara das Skifahren bei. Er freut sich, dass das lebhafte Mädchen sich ebenso gern wie er an der frischen Luft bewegt.

Kunst und Mathematik
Barbara besucht von 1953 bis 1957 die Volksschule in Bad Cannstatt, danach sechs Jahre lang die Mädchenmittelschule (heute: Realschule). Der Besuch eines Gymnasiums ist vor allem etwas für die Söhne großbürgerlicher oder arrivierter Familien. Mädchen kommen dafür kaum in Frage. Es ist schon ungewöhnlich, dass ein Handwerkerehepaar seinen beiden Töchtern die mittlere Reife ermöglicht.

Dabei ist Barbara nur eine durchschnittliche Schülerin, die von Eltern und Lehrern immer wieder auf die vorbildlichen Leistungen ihrer eher introvertierten älteren Schwester hingewiesen wird. Zwar macht es ihr keine besondere Mühe, Englisch zu verstehen und zu sprechen, aber mit der englischen Rechtschreibung hat sie ebenso Schwierigkeiten wie bei einem deutschen Diktat. Für eine Sekretärinnentätigkeit fühlt sie sich also nicht besonders geeignet, zumal sie auch nicht den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen möchte. Lieber würde sie einen Beruf erlernen, der eine handwerkliche Tätigkeit mit einer künstlerischen Formgebung verbindet: Goldschmiedin vielleicht. Da sie sich von Kunst und Mathematik gleichermaßen angezogen fühlt, wäre auch Architektur etwas für sie - aber für ein Hochschulstudium fehlt ihr das Abitur. Deshalb beschließt sie, sich nach der mittleren Reife durch eine Bauzeichnerlehre für ein Architekturstudium an einer Fachhochschule zu qualifizieren.

Mit neunzehn hält Barbara ihren Gesellenbrief in der Hand und beginnt ein Zimmermanns-Praktikum. Den Umgang mit Senklot, Kelle und Ziegelsteinen hat sie bereits bei einem Maurerpraktikum gelernt. Die Arbeiter auf der Baustelle warten erst einmal ab, ob die junge Frau es wagt, auf ein Gerüst zu klettern. Aber damit hat sie keine Probleme. Der letzte Test ist das erste Richtfest, bei dem die Männer der Praktikantin immer wieder zuprosten. Doch sie hält mit und lässt sich nicht anmerken, wie ihr der ungewohnte Alkohol in den Kopf steigt. "So bin ich ziemlich trinkfest geworden", erinnert sie sich später.

Studium
Im Herbst 1967 beginnt sie an der staatlichen Ingenieurschule für das Bauwesen in Stuttgart zu studieren. Zwischendurch sammelt sie im Rahmen eines dritten Praktikums Erfahrungen am Institut für leichte Flächentragwerke der Universität Stuttgart. Dessen Leiter, der Architekt Frei Otto, experimentiert seit den Fünfzigerjahren mit zeltförmigen Dachkonstruktionen. Ende 1969, als Barbara Werner in seinem Institut beschäftigt ist, berät er gerade den Architekten Günter Behnisch und das Ingenieurbüro Leonhardt & Andrä, die im Norden von München das Stadion sowie die Sport- und Schwimmhalle für die Olympischen Sommerspiele 1972 mit einem fast 75 000 Quadratmeter großen, an zwölf bis zu 80 Meter hohen Pylonen aufgehängten Plexiglasdach überspannen. Nicht zuletzt angesichts dieser genialen Architektur merkt die Zweiundzwanzigjährige, dass ihre Stärken mehr im Analytischen als im Kreativen liegen. Da sie nicht darauf erpicht ist, jahrzehntelang Wohnhäuser zu bauen, sucht sie sich nach dem Studienabschluss im Frühjahr 1971 ein anderes Aufgabengebiet und konzentriert sich als Mitarbeiterin eines Architekturbüros in Stuttgart auf die Arbeit an denkmalgeschützten Objekten.

In ihrer Freizeit befasst Barbara sich mit Kunstgeschichte. Einige Wochen nach ihrem Diplom - und parallel zu ihrer Tätigkeit in dem Architekturbüro - immatrikuliert sie sich an der Universität Stuttgart für das Studium der Kunstgeschichte. Zu Beginn des fünften Semesters wechselt sie nach Bonn. Mit einem Stipendium des österreichischen Staates, für das sie sich beim Deutschen Akademischen Austausch Dienst bewarb, verbringt sie das sechste und siebte Semester in Wien. Die Wiener Mentalität bleibt ihr fremd, und sie gewöhnt sich nicht an den Umgangston, etwa wenn sie aus Versehen jemanden stößt und gar nicht dazu kommt, sich zu entschuldigen, weil ihr Gegenüber sofort schimpft: "Können S' nicht aufpassen, Sie Trampel?!" Gern kehrt sie im Herbst 1975 wieder nach Bonn zurück - zumal eine halbe Autostunde weiter nördlich jemand auf sie wartet ...

Die lebenslustige Studentin, die Konfektion langweilig findet und froh ist, dass ihr die Mutter die gewünschten extravaganten Kleider schneidert, hatte während der ersten Semester in Stuttgart auf einer Party den fünfzehn Jahre älteren Kunsthistoriker Dr. Kurt Löcher kennen gelernt. Der Kustos der Staatsgalerie Stuttgart war bereits mit einigen Buchveröffentlichungen hervorgetreten. An diesem Abend fiel ihr der "gereifte Junggeselle" (Barbara Schock-Werner) vor allem deshalb auf, weil er nach einiger Zeit auf einer Couch einschlief. Ungefähr zu der Zeit, als sie an die Universität Bonn wechselte, folgte er einem Ruf nach Köln und avancierte dort zum Hauptkustos am Wallraf-Richartz-Museum. Bei einem gemeinsamen Freund in Stuttgart trafen sich die beiden noch einige Male - und schließlich verliebten sie sich.

Mittelalterliche Bauzeichnungen faszinieren die Kunststudentin. Darüber will sie ihre Doktorarbeit schreiben. Für eine wissenschaftliche Arbeit geeignete Risse existieren nur vom Stephansdom in Wien und vom Straßburger Münster. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit den Wienern zieht sie 1977 einen neunmonatigen Aufenthalt im Elsass vor. Im Archiv des Straßburger Münsters entdeckt sie neben den Rissen des 1420 bis 1439 errichteten Turms die beinahe vollständig erhaltenen Rechnungen der damaligen Bauhütte. Ein weniger zupackender Charakter würde sich wohl auf ein Thema beschränken; sie aber stürzt sich auf die unerwartete Informationsquelle und erforscht, wie so ein mittelalterlicher Betrieb funktionierte. Ihr erweitertes Thema lautet: "Das Straßburger Münster im fünfzehnten Jahrhundert. Stilistische Entwicklung und Hüttenorganisation eines Bürger-Doms".

Familiengründung und Promotion
Die Doktorandin, die seit einer nur standesamtlich geschlossenen und bald wieder beendeten ersten Ehe Schock-Werner heißt, vermählt sich 1978 mit Kurt Löcher. Weil sie unter ihrem bisherigen Doppelnamen bereits wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht hat, behält sie diesen als Autorin bei. Als dabei allerdings unerwartete Schwierigkeiten auftreten - etwa, wenn ihr der Briefträger die Aushändigung eines Einschreibebriefs verweigert -, lässt sie in ihrem Reisepass neben dem offiziellen Namen Barbara Löcher als Künstlernamen Schock-Werner eintragen.

Im selben Jahr wird Kurt Löcher Direktor des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg und zieht mit seiner Ehefrau vom Rheinland nach Franken. Er erweist sich als "leidenschaftlicher Vater" (Barbara Schock-Werner) des einige Monate nach der Hochzeit geborenen Sohnes Gregor Sebaldus. Während seine Frau an ihrer Dissertation schreibt, kommt er so häufig wie möglich am frühen Nachmittag vom Museum nach Hause. Wenn er dann das Jackett auszieht, die Krawatte abnimmt und in Jeans schlüpft, freut sich der kleine Gregor schon: "Vati, neue Hose an!" Das heißt nämlich, dass Vater und Sohn stundenlang spazieren gehen, damit Barbara ungestört arbeiten kann.

Da ihr Doktorvater inzwischen einem Ruf an das kunsthistorische Institut der Universität Kiel folgte, gilt Barbara Schock-Werner zwar offiziell als Doktorandin dieser Hochschule, aber sie muss nur hin und wieder nach Schleswig-Holstein. Hochschwanger fährt die Vierunddreißigjährige im Sommer 1981 zum Rigorosum. Einige Wochen nach der Promotion wird sie von ihrer Tochter Antonia entbunden.

"Ich durchlief das deutsche Bildungssystem diagonal", schmunzelt Barbara Schock-Werner. Tatsächlich hat sie die mittlere Reife, eine Berufsausbildung, einen Fachhochschulabschluss und einen Doktortitel. Nur kein Abitur. Das war ein zeitraubender Weg, dem sie jedoch praktische Erfahrungen verdankt, um die andere Akademiker sie beneiden, die nur Gymnasium und Universität kennen.

Professorin
Ebenso zielstrebig wie unaufdringlich sorgt die kontaktfreudige Ehefrau des Museumsdirektors dafür, dass es sich herumspricht, über welche Qualifikationen sie verfügt. So kommt es, dass die Akademie der bildenden Künste in Nürnberg sie 1982 als Dozentin für Kunst-, Architektur- und Designgeschichte beruft. Sieben Jahre später ernennt das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst die inzwischen Zweiundvierzigjährige zur Honorarprofessorin. Parallel zu den Vorlesungen in Nürnberg lehrt sie von 1985 bis 1991 auch Architektur an der Fachhochschule für Technik in ihrer Heimatstadt Stuttgart. Und im Herbst 1992 übernimmt sie vertretungsweise eine Professur für Kunstgeschichte an der Universität Erlangen; nur vorübergehend, denkt sie anfangs, aber es werden acht Semester daraus.

Aufgrund ihrer beruflichen Belastung kann sie sich nicht so viel um ihre Familie kümmern, wie sie es gern täte. Glücklicherweise braucht sie sich keine besonderen Sorgen um Gregor und Antonia zu machen, denn die beiden sind gesund und psychisch stabil. Aupairmädchen helfen zwar im Haushalt, aber die Kinder kommen schon früh allein zurecht, und wenn die Eltern mittags nicht zu Hause sind, kocht Gregor für sich und seine Schwester.

Neben ihrer Lehrtätigkeit engagiert Barbara Schock-Werner sich seit 1989 im Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Burgenvereinigung, der sie nach drei Jahren zur Vorsitzenden wählt. Außerdem übernimmt sie 1995 das Amt der Vizepräsidentin der Deutschen Burgenvereinigung. Dabei geht es ihr darum, deutsche Burgen und Schlösser zu erhalten und ihre Erforschung zu fördern. Natürlich lernt sie auch Burgbesitzer und Schlossherren kennen und erweitert auf diese Weise das Netzwerk ihrer Beziehungen.

Bewerbung als Dombaumeisterin
Zu ihren wichtigen Kontaktpersonen zählt Professor Dr. Arnold Wolff, der 1962 in der Kölner Dombauverwaltung angefangen und zehn Jahre später Dombaumeister Willy Weyres abgelöst hatte. Den renommierten Architekten identifiziert sie so mit seinem Amt, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommt, er könne es eines Tages aufgeben. Erst als Kölner Freunde, die ihre fachliche Qualifikation kennen, sie darauf ansprechen, dass Arnold Wolff beabsichtige, nach der 750-Jahr-Feier des Kölner Doms (1998) in den Ruhestand zu treten, wird ihr bewusst, welche Möglichkeit sich da bietet.

Vier Frauen und neunundzwanzig Männer bewerben sich 1997 mit ihr um die Nachfolge Professor Wolffs. Sie weiß, dass sie aufgrund ihrer handwerklichen und akademischen Qualifikationen gute Voraussetzungen mitbringt, aber sie fragt sich, ob der als konservativ geltende Kardinal Joachim Meisner eine Frau als Dombaumeisterin akzeptieren würde. Entsprechend aufgeregt sitzt sie vor den Herren der Auswahlkommission und beantwortet deren Fragen. Mit dem Gefühl, einen guten Eindruck gemacht zu haben, fährt sie zurück nach Nürnberg. Wie wird die Entscheidung ausfallen? Hin und wieder ruft jemand aus Köln an und stellt eine Zusatzfrage. Daraus schließt sie, dass sie noch zu den Kandidaten zählt. Eines Tages liegt unvermittelt der Entwurf des Arbeitsvertrags in ihrem Briefkasten. Das Metropolitandomkapitel der Hohen Domkirche zu Köln hat sich für sie entschieden. Am 1. Januar 1999 soll sie ihr neues Amt antreten. Fassungslos überfliegt sie die Paragrafen. Wenn alles gut geht, wird sie die erste Dombaumeisterin!

In Hochstimmung fährt Barbara Schock-Werner erneut nach Köln, wo Dompropst Bernard Henrichs sie Kardinal Meisner vorstellt. Jetzt fehlt nur noch die Unterschrift der Ministerin des Landes Nordrhein-Westfalen für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport, die der Dombaukommission zusammen mit dem Kölner Erzbischof vorsteht. Dass sie sich dem Urteil des Domkapitels anschließen wird, gilt als sicher, aber ohne ihre Zustimmung ist die Entscheidung nicht spruchreif. Trotzdem erfahren Journalisten auf verschlungenen Wegen davon und rufen pausenlos bei Familie Löcher in Nürnberg an, um sich das Gerücht bestätigen zu lassen. Die Kandidatin schärft ihrem neunzehnjährigen Sohn und ihrer sechzehnjährigen Tochter ein, erst einmal nicht mehr ans Telefon zu gehen, bis die Ministerin nach einigen Tagen endlich von einer Dienstreise zurückkehrt und den Vertrag unterschreibt. Im Dezember 1997 wird Barbara Schock-Werner schließlich der Presse vorgestellt. In den folgenden Monaten bitten Dutzende von Presseleuten die zukünftige Dombaumeisterin um Interviews. Fast alle wundern sich darüber, dass die katholischen Würdenträger eine Frau für das traditionsreiche Amt ausgewählt haben. Doch die Geschlechterfrage spielte bei der Entscheidung weniger eine Rolle als die Frage, ob der Schwerpunkt auf praktische Erfahrungen oder akademisches Wissen gelegt werden sollte.

Barbara Schock-Werner muss sich erst daran gewöhnen, dass sie durch ihr neues Amt so ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten ist. Dabei hält sie Public Relations für wichtig, weil der 1842 gegründete Zentral-Dombau-Verein noch immer sechzig Prozent des Sechs-Millionen-Euro-Etats der Dombauverwaltung aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen aufbringt.

In die Freude über die erfolgreiche Bewerbung mischt sich das Bedauern, dass ihr Vater nicht mehr erlebt, wie sie Dombaumeisterin wird. Reinhold Werner war 1996 gestorben. Während der rechtschaffene Handwerker ihre Lehrtätigkeit nicht als "richtige Arbeit" betrachtete und ihm akademische Titel nichts bedeuteten, hätte er die praxisnahen Aufgaben einer Dombaumeisterin respektiert.

"Erhalten und bewahren, das ist der Sinn unserer Arbeit"
Es kommt zwar vor, dass freie Architektinnen sich um den Erhalt bestimmter Kirchen kümmern, am 1. Juli 1996 wurde Ingrid Rommel Münsterbaumeisterin in Ulm, aber eine Dombaumeisterin gab es vor Barbara Schock-Werner noch nicht. Zudem ist der Kölner Dom die Amtskirche eines der bedeutendsten deutschen Erzbistümer und eine der wichtigsten Kathedralen in Europa. Die 1996 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte Kathedrale beeindruckt durch ihre schiere Größe, mehr aber noch aufgrund der Proportionen: "Es handelt sich um eine rationale, logisch geplante, im Grunde mathematische Angelegenheit mit stark emotionaler Wirkung." (Barbara Schock-Werner)

Im Zweiten Weltkrieg wurde der Dom durch vierzehn Bomben schwer beschädigt. Sechzig Jahre später arbeiten die Steinmetze der Domhauhütte immer noch daran, eine Ziegelplombe an der nordwestlichen Ecke durch präzise behauene Trachytquader zu ersetzen. Gleichzeitig sind die etwa sechzig Handwerkerinnen und Handwerker - Restauratoren, Glasmaler und Goldschmiede, Bildhauer und Steinmetze, Maler, Dachdecker, Zimmerleute, Schmiede, Schlosser und Gerüstbauer - damit beschäftigt, die durch Verwitterung, sauren Regen und Abgase entstandenen Schäden zu beheben. Während die Bildhauer in den Fünfziger- und Sechzigerjahren einer Figurengruppe schon einmal spaßeshalber die Gesichtszüge von John F. Kennedy, Nikita Chruschtschow, Charles de Gaulle und Harold Macmillan verliehen, werden seit Arnold Wolffs Amtsantritt defekte Figuren und Fassadenteile selbst in versteckten Ecken ausschließlich gegen originalgetreu bearbeitete Steine ausgetauscht. Obwohl kein Besucher des Doms eine fünf Zentimeter große Krabbe in 70 Meter Höhe wahrnehmen kann, achtet der Steinmetz, der eine verwitterte Fiale ersetzt, auf einen fast messerscharfen Kantenverlauf. Allein mit den dringendsten Arbeiten hat die Dombauhütte auf Jahre hinaus zu tun; und es kommen ständig neue hinzu. "Der Dom gibt das Programm vor", kommentiert Barbara Schock-Werner.

"Erhalten und bewahren, das ist der Sinn unserer Arbeit", erläutert sie, und fährt fort: "Die Dombaumeisterin vertritt neben dem Dompropst die Dombauverwaltung nach außen und ist für Organisation, Arbeitsplanung, Haushaltsführung und Öffentlichkeitsarbeit der Dombauverwaltung im Allgemeinen und der Dombauhütte im Besonderen verantwortlich. Auch über die Schwerpunkte der Forschung entscheidet sie nach Diskussionen mit den Archivaren, Archäologen, Kunsthistorikern und Kirchengeschichtlern."

"Man muss schon klarstellen, wer letztlich das Sagen hat"
Noch bevor die neue Dombaumeisterin ihr Amt offiziell übernimmt, lässt sie sich von ihrem Vorgänger durch den Dom führen, besorgt sich auch mehrmals den Schlüssel und streift stundenlang allein durch das riesige Bauwerk, um sich damit vertraut zu machen. Außerdem merkt sie sich die Namen und Gesichter ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Drei Monate lang arbeitet Arnold Wolff sie ein. Auch später kommt er alle paar Tage vorbei, um zum Beispiel für ein Buchprojekt etwas nachzuschlagen. Das von Barbara Schock-Werner in der Dombauverwaltung angebotene Büro lehnt er zwar dankend ab, aber er steht ihr gern mit seinem Rat zur Verfügung. Kenntnisse über Mathematik und Geometrie, Kunst- und Architekturgeschichte, Akustik, Lichtführung und Farbharmonie, Baumaterialien und Korrosionsvorgänge bringt sie ebenso mit wie handwerkliche Fertigkeiten. Mit liturgischen Fragen macht sie sich rasch vertraut, und sie eignet sich das betriebswirtschaftliche Wissen an, das zum Beispiel für die Erstellung des Etats erforderlich ist. Elan und Durchsetzungsvermögen gehören ohnehin zu ihrem Charakter. "Ich halte mich nicht für autoritär", sagt sie mit resoluter Stimme. "Aber man muss schon klarstellen, wer letztlich das Sagen hat."

Obwohl sie besonders während der Einarbeitungsphase mehr als genug zu tun hat und deshalb auch monatelang keine Interviews mehr gibt, bringt Barbara Schock-Werner die Energie auf, sich - wie vor der Anstellung abgesprochen - ein halbes Jahr nach der Übernahme ihres Amts mit einer Arbeit über die Bautätigkeit des Würzburger Fürstbischofs Julius Echter von Mespelbrunn zu habilitieren.

Im Sommer 1999 bezieht die Zweiundfünfzigjährige mit ihrem Mann die neue Dienstwohnung, ein Penthouse über den Büros der Kölner Dombauverwaltung am Südrand der Domplatte. Da Kurt Löcher seit zwei Jahren im Ruhestand ist, stört ihn der Ortswechsel beruflich nicht; sein Buch über den Renaissance-Maler Barthel Beham, an dem er gerade arbeitet, kann er auch in Köln schreiben. Die achtzehnjährige Tochter bleibt allerdings in Nürnberg zurück, um dort ihr Abitur zu machen. Dem drei Jahre älteren Sohn, der die Reifeprüfung bereits bestanden hat, gefällt es im Rheinland so gut, dass er nach einem Besuch bei den Eltern beschließt, sein Jurastudium in Bonn zu beginnen.

"Das Amt der Dombaumeisterin ist nicht einfach nur ein Job"
Als die Dombaumeisterin einige Monate nach ihrem Amtsantritt zum ersten Mal eine Orkanwarnung im Rundfunk hört, alarmiert sie die Feuerwehr. Nur mit Mühe kann sie die zuständigen Herren davon überzeugen, Absperrgitter aufzustellen. "Typisch Frau!", heißt es. Dann stürzt ein Brocken aus 25 Meter Höhe herab, und die Spötter verstummen. Nicht nur Orkanböen bereiten ihr Sorgen, sondern zum Beispiel auch die unglaublichen Mengen Urin, die besonders im Karneval jede Nacht in die Domfundamente sickern. Dagegen kann sie kaum etwas anderes unternehmen, als dunkle Ecken mit zusätzlichen Bodenstrahlern auszuleuchten. Zornig wird sie, wenn sie vor einer noch nicht versiegelten Bronzetür mit feuerroten Graffiti steht. Ihre Mitarbeiter müssen die monumentalen Türflügel dann ausbauen und säubern - soweit dies ohne vollständige Abtragung der Patina möglich ist. Die Reste der Acrylsprühfarbe können sie nur mit einer grünlichen Wachsschicht abdecken: Zwei mehr als hundert Jahre alte Portale bleiben trotz des enormen Aufwands beschädigt.

Vierzig Jahre nach Abschluss des deutsch-französischen Vertrags vom 22. Januar 1963 sieht Barbara Schock-Werner den Zeitpunkt gekommen, mit Unterstützung französischer Behörden nach dem 1794 von den Revolutionstruppen geraubten und seither verschollenen Domarchiv zu suchen. Sie wäre glücklich, wenn sie wenigstens Teile davon wiederfände. Das Amt der Dombaumeisterin fordert Barbara Schock-Werner voll und ganz. Chick gekleidet, fährt sie spätestens um 8 Uhr im Aufzug von ihrer Wohnung in den ersten Stock hinunter, betritt ihr Büro und orientiert sich auf dem mit der konservativen Einrichtung kontrastierenden Flachbildschirm über die anstehenden Termine. Wenn es ein Montag ist, findet sie sich um 9 Uhr bei ihrem damaligen,inzwischen verstorbenen Chef ein, Dompropst Bernard Henrichs, um ihn über geplante Baumaßnahmen zu unterrichten. Einmal pro Woche besichtigt die Dombaumeisterin die Baustellen. Da sich die meisten davon naturgemäß nicht am Boden befinden, muss sie auch bei Wind und Regen mit dem rappelnden Außenaufzug an der Nordfassade 45 Meter hoch hinauf und steigt dann in Stiefeln mit rutschfesten Sohlen über die Dächer. Die meiste Zeit verbringt sie allerdings mit Besprechungen in Büros und Konferenzräumen. Da legt ihr ein Grafiker sein Konzept für eine neue Beschilderung vor, Kollegen von einer anderen Dombauhütte beraten sich mit ihr über ein Projekt, ein Praktikant stellt sich vor, ein Dokumentarfilmer erläutert ihr sein Filmprojekt über den Dom, und eine Künstlerin zeigt ihr Entwürfe für ein neues Glasfenster. In der Regel kehrt Barbara Schock-Werner gegen 18 Uhr in ihre Wohnung zurück. Zwei oder drei Mal in der Woche besucht sie dann noch eine Abendveranstaltung, bei der sie einen Vortrag hält oder die Dombauverwaltung repräsentiert. Nicht selten endet ihr Arbeitstag erst gegen Mitternacht. Trotzdem klingelt am nächsten Morgen um 6.20 Uhr der Wecker. Sie gehört allerdings nicht zu den Menschen, die frühmorgens noch rasch Sport treiben. Um diese Zeit aufstehen zu müssen, findet sie hart genug.

Für Schwimmen und Radfahren findet sie nur am Wochenende Zeit. Am Samstagnachmittag setzt sie sich häufig an den Schreibtisch und erledigt Arbeiten, die mit dem Amt der Dombaumeisterin verbunden sind. Da erstellt sie beispielsweise ein Gutachten über eine Doktorarbeit zum Thema Denkmalschutz oder sie erledigt die in ihrer Funktion als Schatzmeisterin des Dombaumeister-Vereins anfallende Korrespondenz. Erst nach der Sonntagsmesse ist Zeit zum Entspannen. "Ich kann sehr gut faulenzen", beteuert sie. In den Mußestunden hat sie es gern, wenn ihr Mann eine seiner weit mehr als tausend Opernschallplatten auflegt.

Wohnung und Büro im selben Gebäude zu haben, scheint praktisch zu sein. Barbara Schock-Werner spart sich unproduktive Fahrzeiten und nervenaufreibende Staus, aber hin und wieder findet sie es doch belastend, nicht nur im, am und neben dem Dom zu arbeiten, sondern zudem von ihren Wohnungsfenstern auf das ihr anvertraute Objekt zu blicken. Deshalb überlegen sie und ihr Mann, ob sie sich ein Wochenendhäuschen in der Eifel anschaffen sollen. Die Sechzigjährige weiß, dass es wegen ihrer beruflichen Verpflichtungen nicht möglich sein wird, jede Woche hinzufahren, aber sie wünscht sich, wenigstens ein Wochenende im Monat außerhalb der Stadt zu verbringen.

Auch wenn wenig Zeit fürs Privatleben bleibt, hat Barbara Schock-Werner die für sie optimale Beschäftigung gefunden. "Das Amt der Dombaumeisterin ist eine richtige Aufgabe und nicht einfach nur ein Job", betont sie. "Gerade das reizt mich daran."