Die Stadt in Ostwestfalen ist eine Hochburg aramäischer Christen

Vom „Berg der Knechte“ nach Gütersloh

Wenn Pfarrer Sabri Aydin in seiner Gütersloher Gemeinde St. Stephanus predigt, dann liest er die Messe in der Sprache, die auch Jesus und seine Jünger gesprochen haben sollen: Der 55-Jährige ist Aramäer. Im Gebiet Ostwestfalen-Lippe leben so viele Aramäer wie sonst nirgendwo in Deutschland. Etwa 3000 sollen es in Gütersloh sein. Drei syrisch-orthodoxe Gemeinden gibt es in der Stadt, dazu mehrere Fußball- und Volksvereine. Allein 370 Familien gehören zur St. Stephanus-Gemeinde.

 (DR)

Dass das Kirchengebäude ehemals eine Glaserei war, ist heute kaum zu erkennen. Zwei Jahre hat die Renovierung gedauert, erinnert sich Pfarrer Aydin. Bevor die Kirche 1990 endlich eingeweiht wurde, hatte die Gemeinde für ihre Messen keinen festen Ort. Beige-weiß sind die Wände, geschmückt mit Bildern, die den Kreuzgang Christi zeigen. Der Altarraum ist durch Vorhänge vom Innenraum abgetrennt. Die hellen Steine für den kunstvoll gefertigten Altar wurden extra aus dem Heimatland Tur Abdin (Berg der Knechte) im Südosten der Türkei angeliefert, erzählt Aydin stolz: „Der Altar enthält 360 Steine und ist 17 Tonnen schwer."

Verfolgung und Schikane
Nach Massakern an Christen im 19. und 20. Jahrhundert flohen viele Aramäer aus der Türkei. Pfarrer Aydin kam 1972 aus Midyat nach Deutschland, erst zu einem Onkel nach Delmenhorst, dann nach Gütersloh, wo es Arbeit in einer Möbelfirma für ihn gab. „Ich wollte dem Militärdienst entkommen", erzählt er. Er befürchtete, wegen seines christlichen Glaubens beim türkischen Militär schikaniert zu werden. Schnell stand für ihn fest, dass er nicht mehr zurückkehren würde.

Warum Gütersloh?
Die Zahl der Aramäer in Gütersloh stieg rasch an. „Zuerst waren wir hier nur zu viert", erinnert er sich. Erst folgten die Familien nach, 1976 kam es schließlich zu einer regelrechten Auswanderungswelle, weil Aramäer als politisch Verfolgte in Deutschland Asyl beantragen konnten. Ein aramäischer Priester fehlte in Gütersloh bislang. 1986 ließ sich Aydin schließlich weihen: Ein befreundeter Bischof hatte ihm ins Gewissen geredet. „Du musst einfach Pfarrer werden, sagte er," erinnert sich Aydin.

Aber wieso wurde ausgerechnet Gütersloh zur Aramäer-Hochburg? „Zum einen gab es hier Arbeit, zum anderen einen Rechtsanwalt, der sich mit den Problemen der Aramäer auskannte und Asyl erkämpfte," vermutet Aydin. Das hatte sich schnell herumgesprochen. Anders als in der Türkei können die Aramäer in Deutschland frei ihre Religion ausüben und ihre Sprache pflegen. „Es gibt in NRW rund 17 Lehrer, die in den Schulen unsere Religion unterrichten dürfen", weiß Aydin. Er selbst springt einmal pro Woche als Religionslehrer ein.

Kleine aber feine Unterschiede
Im Glauben unterscheidet sich die syrisch-orthodoxe Kirche kaum von anderen christlichen Richtungen. Aber einige Zeremonien sind anders: Zum Beispiel erhalten alle Gemeindemitglieder nach der Messe Brot. Bei der Taufe wird das Kind drei Mal in das Taufbecken getaucht und zusätzlich gesalbt. Auch das Fasten hat eine große Bedeutung: 40 Tage im Jahr und in der Karwoche sollen die Gläubigen auf tierische Speisen und Alkohol verzichten. Mittwochs und freitags sind traditionelle Fastentage.
Sehnsucht nach seiner alten Heimat packt Aydin manchmal trotzdem. Im vorigen Jahr war er zum ersten Mal seit seiner Flucht in der Türkei. Trotz seiner Furcht, erwischt zu werden, mietete er sich ein Auto und fuhr nach Tur Abdin. Die Erfahrung war ernüchternd: Die Häuser zerfallen, die Leute weggezogen. „Von der alten Heimat war kaum noch etwas zu erkennen. Wo früher 160 Familien lebten, sind jetzt noch 7. Es war katastrophal", beschreibt er. Zurück will er mit seiner Frau und seinen fünf Kindern nicht mehr. „Die Christenverfolgung in der Türkei wird nie zu Ende sein", ist er sich sicher.