Studie kritisiert Umgang evangelischer Kirche mit Missbrauchsverdacht

Fall in Siegen genauer untersucht

Ein externer Bericht hat Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen einen evangelischen Kirchenmitarbeiter im Kreis Siegen untersucht. Auch die Rolle der zurückgetretenen EKD-Vorsitzenden wird dabei kritisch gesehen.

Annette Kurschus / © Harald Oppitz (KNA)
Annette Kurschus / © Harald Oppitz ( KNA )

Im Umgang mit dem mutmaßlichen Missbrauchsfall im Kirchenkreis Siegen, der zum Rücktritt der früheren westfälischen Präses Annette Kurschus führte, hat es nach dem Ergebnis einer unabhängigen Studie Versäumnisse und Fehlverhalten von leitenden Mitarbeitenden der Evangelischen Kirche von Westfalen gegeben. 

Kurschus, die damals auch Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war, sei von einer Pfarrerin im Oktober 2022 über die Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen einen früheren Kirchenmitarbeiter informiert worden, erklärte die mit der Untersuchung beauftragte Unternehmensberatung Deloitte am Dienstag in Siegen.

Kurschus habe daraufhin die damalige Beauftragte für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung sowie den damaligen Ortsdezernenten des Kirchenkreises Siegen informiert, im März 2023 sei der Fall dann offiziell bei der Meldestelle der Landeskirche gemeldet worden. Die gesamte Kirchenleitung der westfälischen Kirche wurde im April 2023 informiert.

Keine Belege für Kurschus' Fehlverhalten

Bereits in den 1990er Jahren hätten die Dienstvorgesetzten des Beschuldigten Kenntnis von Vorwürfen gegen den Beschuldigten gehabt, erklärten die Autoren der Studie. Sie kritisierten, dass damals eine formelle Untersuchung oder Meldung der Vorwürfe unterblieben sei.

Belege für ein Fehlverhalten von Kurschus in ihrer Siegener Zeit als Pfarrerin und Superintendentin gebe es aber nicht.

Kurschus war in den 90er Jahren Pfarrerin in einer Nachbargemeinde und "eine enge Freundin der Ehefrau des Beschuldigten". Sie sei aber nicht die Dienstvorgesetzte des Beschuldigten gewesen, betonten die Studienautoren. Kurschus hatte nach Bekanntwerden des Missbrauchsverdachts stets beteuert, dass sie in ihrer Siegener Zeit lediglich Hinweise auf die Homosexualität des Beschuldigten gehabt habe, nicht aber auf sexuellen Missbrauch.

Beschuldigter ist laut Studie ein Kirchenmusiker. Er soll seit den 1980er Jahren im Kirchenkreis Siegen junge Orgelschüler sexuell bedrängt und dazu das Schüler-Lehrer-Verhältnis ausgenutzt haben.

Kurschus 2023 vom EKD-Ratsvorsitz zurückgetreten

Sieben Betroffene erhoben laut Studie Missbrauchsvorwürfe gegen den Mann. Sexuelle Kontakte zu zwei Betroffenen habe er eingeräumt. Ob die Betroffenen bereits volljährig waren, habe nicht abschließend geklärt werden können. Die Staatsanwaltschaft Siegen stellte strafrechtliche Ermittlungen Ende April 2024 ein, da die mutmaßlichen Missbrauchsfälle entweder verjährt oder die Betroffenen damals nicht mehr minderjährig gewesen seien.

Deloitte kritisierte bei der Vorstellung der Untersuchung die "passive Kommunikationsstrategie" von Kurschus und der westfälischen Kirchen. "Dieser Mangel an Transparenz führte zu hohem medialem Druck sowie fehlendem Rückhalt innerhalb der kirchlichen Gremien und damit letztlich zum Rücktritt der damaligen Präses", heißt es in der Studie. Kurschus war im November 2023 als westfälische Präses und als EKD-Ratsvorsitzende zurückgetreten. Seit April 2024 ist sie Pastorin und Seelsorgerin in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld.

Der Theologische Vizepräsident der westfälischen Kirche, Ulf Schlüter, zeigte sich erschüttert über die Ergebnisse der Studie. Die Betroffenen hätten nicht wieder gutzumachendes Leid erfahren. Die Landeskirche werde aus dem Bericht Konsequenzen ziehen.

Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche

Die Zahl der Missbrauchsopfer in der evangelischen Kirche und Diakonie ist viel höher als bislang angenommen. Laut einer Studie sind seit 1946 in Deutschland nach einer Hochrechnung 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden. Die Zahl der Beschuldigten liegt bei 3.497. Rund ein Drittel davon seien Pfarrpersonen, also Pfarrer oder Vikare. Bislang ging die evangelische Kirche von rund 900 Missbrauchsopfern aus. Die Forum-Studie wurde von einem unabhängigen Forscherteam erarbeitet und in Hannover veröffentlicht.

Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr (dpa)
Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr ( dpa )

 

Quelle:
epd