Historiker fordert Papst-Entschuldigung bei Indigenen

"Ein generationsübergreifendes Trauma"

Papst Franziskus will im Dezember Indigenenvertreter aus Kanada empfangen. Der Historiker Manuel Menrath spricht von einem ersten Schritt. Es brauche eine offizielle Entschuldigung des Papstes für die Verbrechen der Vergangenheit.

Kanada: Gedenkstätte für Massengrab indigener Kinder / © Susan Montoya Bryan (dpa)
Kanada: Gedenkstätte für Massengrab indigener Kinder / © Susan Montoya Bryan ( dpa )

DOMRADIO.DE: Ist ein persönliches Gespräch mit dem Papst die Geste, die man sich in Kanada von der Kirche erhofft hat? 

Manuel Menrath (Historiker an der Universität Luzern): Ja, das ist ein erster Schritt, würde ich sagen, um den Dialog aufzunehmen. Denn bisher war es relativ schwer für Indigene, sich bei der katholischen Kirche überhaupt Gehör zu verschaffen. Die Kirche - das muss man auch wissen - ist die einzige Institution, die in das Residential-School-System involviert ist und sich noch nie offiziell für die Verbrechen entschuldigt hat. 

DOMRADIO.DE: Ist denn schon genau bekannt, wie dieser Besuch tatsächlich ablaufen wird im Dezember? 

Menrath: Ich denke, es gibt Audienzen, es gibt Gespräche. Mehr weiß ich dazu nicht. Aber die Indigenen haben große Hoffnungen in diese erste Dialogaufnahme auf Augenhöhe mit dem Papst. Das ist ganz zentral für sie. 

DOMRADIO.DE: Dieses Gespräch soll einen Austausch über die Erwartungen der Indigenen an eine Papst-Reise nach Kanada ermöglichen. Was erwarten sich die Menschen von Franziskus, wenn er dann tatsächlich nach Kanada kommt? 

Menrath: Das ist entscheidend. Er sollte wirklich nach Kanada kommen und es braucht diese offizielle Entschuldigung. Im indigenen Rechtsverständnis spielen Hierarchien keine Rolle. Es geht vielmehr um eine Kreisform: Täter und Opfer werden in diesen Kreis integriert und müssen einander ansehen können. Doch die meisten Priester und Missionare, die den Indigenen Leid zugefügt haben, können ja nicht mehr in diesen Kreis gehen, denn sie sind inzwischen verstorben.

Daher brauchen Indigene in ihrem Rechtsverständnis jemanden, der diese Verantwortung übernehmen kann und wenigstens symbolisch die Schuld anerkennt und sich offiziell entschuldigt. Erst dann kann die aus der Balance geratene Welt wieder ins Lot kommen.

Aber zu meinen, diese Entschuldigung des Papstes wäre dann der Abschluss der Versöhnung, das wäre natürlich falsch. Denn sie stellt erst den Beginn eines neuen gemeinsamen Weges dar, mit dem die indigene Gesellschaft in ihrem Heilungsprozess gestärkt werden soll. 

DOMRADIO.DE: Wie ist das aus Ihrer Sicht? Inwiefern leiden die Indigenen in Kanada auch heute noch unter diesen unvorstellbaren Verbrechen, an denen eben kirchliche Vertreter mit beteiligt waren? 

Menrath: Das Grundproblem ist ja: Wir sprechen ja meistens von Residential Schools oder Internaten. Das ist ein Euphemismus. Denn grundsätzlich waren das Zwangsassimiliations-Anstalten. Und die haben ein generationsübergreifendes Trauma ausgelöst. Ich war an vielen abgelegenen Reservaten: Da kommt man in Dritt-Welt-Gebiete mitten in einem der reichsten Länder der Welt.

Die Kinder wurden ja in den Schulen gebrochen, ihrer Identität beraubt. Zu Hause in den Reservaten merkten sie, dass sie trotz Zwangsassimilierung und Gehirnwäsche noch nicht weiß geworden waren. Ihnen war ja stets eingerichtet worden, ihre indigene Sprache sei primitiv, sie hätten keine Geschichte und ihre Spiritualität sei des Teufels. Im europäisch geprägten Kanada stehen sie auch nur am Rande und sind dort Rassismus ausgesetzt. Also, sie haben ihre Identität verloren.

Sie begannen dann auch, ihre eigenen Eltern zu hassen, denn die verkörperten ja das, was man ihnen durch die Gehirnwäsche ausgetrieben hat. Sie griffen dann zu Alkohol, zu Drogen, sie hatten keine Perspektiven. Es ist ein Riesendesaster und das übertrug sich dann wieder auf die Kinder. Die Kinder wurden ja dann meistens auch noch weggenommen. Denn die Eltern waren nicht fähig, die Kinder zu erziehen, weil sie in den Residential Schools so gebrochen wurden. Dann kam wiederum der Staat, nahm die Kinder weg. Sie kamen in irgendwelche weißen Familien. Dieses Trauma geht einfach weiter. Und das ist nicht nur einfach eine Geschichte, sondern es ist der Ist-Zustand der indianischen Gesellschaft. 

DOMRADIO.DE: Warum kommt es eigentlich erst jetzt ans Licht, was sich da in Kanada an Internatschulen im 19. und 20. Jahrhundert abgespielt hat? Da muss es doch eigentlich schon Hinweise gegeben haben, dass dort diese Verbrechen stattgefunden haben. 

Menrath: Ja, die gab es schon sehr lange, diese Hinweise. Die Behörden wussten das. Nur in der kanadischen Mainstream-Gesellschaft kam das nicht an. In den 60er und 70er Jahren gab es Propagandavideos, die einfach glückliche indianische Kinder zeigten, die spielten und sich wie Weiße aufführten. Und die Indigenen selbst wurden ja zum Schweigen verurteilt. Die Priester und Nonnen sagten: Wenn ihr etwas gegen die Kirche oder gegen das Erziehungssystem sagt, kommt ihr in die Hölle. Das war sehr, sehr stark. Und dann wollten viele Menschen diesen Schmerz nicht noch mal Revue passieren lassen. Wir kennen das ja auch aus Opfer-Forschung. Das Schweigen sitzt so unglaublich tief.

Erst in den 1990er Jahren hat Phil Fontaine, ein National Chief, also der höchste indianische Repräsentant, gesagt: Ich war in der Residential School und habe das erlebt. Das war furchtbar. Jetzt kamen immer mehr Indigene, die sich trauten, darüber zu sprechen. Denn zuerst hatten sie Angst, man würde ihnen keinen Glauben schenken. Das führte dann eben zur offiziellen Entschuldigung des kanadischen Staates 2008. 2015 veröffentlichte dann die "Truth and Reconciliation Commission" ihren erschütternden Abschlussbericht. Es dauerte halt sehr, sehr lange, bis das Ganze endlich in der kanadischen Mainstream-Gesellschaft ankam. Und diese Kindergräber, die jetzt diesen Sommer gefunden wurden - das konnte man nicht mehr verschweigen. 

Das Interview führte Carsten Döpp.


Manuel Menrath mit Chief Bart Meekis (l.) und Deputy-Chief Robert Kakegamic / © N.N. (Menrath)
Manuel Menrath mit Chief Bart Meekis (l.) und Deputy-Chief Robert Kakegamic / © N.N. ( Menrath )
Quelle:
DR