Muss Papst Franziskus sich für Kamloops entschuldigen?

"Zunächst einmal die Faktenlage klären"

Nach dem Fund von 215 Kinderleichen fordert die kanadische Regierung den Papst auf, sich offiziell für die frühere Rolle der katholischen Kirche im Heimsystem zu entschuldigen. Vatikanexperte Ulrich Nersinger hält das für bedenklich.

Eine Frau legt eine Rose auf eines von 215 Paar Kinderschuhen auf den Stufen der Vancouver Art Gallery / © Darryl Dyck (dpa)
Eine Frau legt eine Rose auf eines von 215 Paar Kinderschuhen auf den Stufen der Vancouver Art Gallery / © Darryl Dyck ( dpa )

DOMRADIO.DE: Papst Franziskus soll sich entschuldigen. Jetzt könnte man sagen: Das ist ja alles vor seiner Amtszeit passiert. Wäre eine solche Entschuldigung trotzdem der richtige Weg?

Ulrich Nersinger (Vatikanexperte): Man muss, glaube ich, zunächst einmal bedenken, dass man sich vor Schnellschüssen hüten muss. Wenn irgendwo ein Flugzeug abstürzt oder, wie vor kurzem, in Norditalien eine Seilbahn Kabine abstürzt, dann ist die Medienlandschaft, die Öffentlichkeit sofort präsent. Zehn, fünfzehn Minuten nach dem Geschehen erwartet man schon Antworten und will schon den Schuldigen benennen. Das ist immer verständlich, aber im Grunde ja unmöglich und auch unverantwortlich. So ergeht es mir auch bei dem grausigen Fund jetzt in Kamloops in Kanada. Da müssen wir erst einmal schauen: Was ist eigentlich geschehen?

DOMRADIO.DE: Aber gab es so etwas generell schon mal, dass Päpste sich entschuldigt haben?

Nersinger: Das hat es schon gegeben. Aber das haben sie dann auch gemacht, glaube ich, wenn definitiv klar war, was geschehen ist. Zum Beispiel sind jetzt in Kanada zunächst einmal die Forensiker und die Historiker gefordert. Und deren Arbeit braucht natürlich auch eine gewisse Zeit. Man muss erst einmal erkunden: Was ist wirklich geschehen? Woran sind diese Kinder gestorben? Wann sind diese Kinder gestorben? Ich denke, das ist auch ein Versuch, erst einmal die Faktenlage darzulegen.

Wenn ich jetzt direkt rufe: "Ja, Entschuldigung, das ist die Schuld der der damaligen Oberin oder die Schuld der Schwestern, Patres oder Brüder, die das Heim geführt haben", dann wäre ich sehr vorsichtig. Das kann sein. Wir wissen, das in der Kirche in früheren Zeiten die Heime nicht so da gestanden haben, wie wir uns das gewünscht haben. Aber ich denke, zunächst einmal müssen wir die Faktenlage klären. Und dann sollte man weiter schauen.

DOMRADIO.DE: Trotzdem gibt es neben Forderungen nach einer Entschuldigung ja auch schon Stimmen, die sagen, dass zum Beispiel eine finanzielle Entschädigung seitens der katholischen Kirche angebracht wäre. Wie wahrscheinlich ist denn so was? Gab es das schon mal?

Nersinger: Ja, natürlich gab es so etwas. Aber natürlich erst, nachdem man genau gewusst hat, was geschehen ist. Man darf auch über diese armen Kinder, wenn sie mutmaßliche Opfer gewesen sind, nicht ein zweites Mal herfallen, indem man sie benutzt, eventuell für gewisse Aversionen gegen Kirchen oder gegen eine bestimmte Konfession.

Ich denke, man ist den Kindern, diesen mutmaßlichen Opfern muss man ja noch sagen, auch schuldig, dass man ihnen mit Respekt begegnet, dass man genau klärt, was geschehen ist. Und wenn man herausfindet, dass hier wirklich Verbrechen geschehen sind, dann muss das auch alles geklärt werden. Dann muss man sich auch zusammensetzen. Man muss sich mit den Verwandten zusammensetzen. In diesem Fall ja auch mit dem Stamm, zu dem sie gehörten. Und man muss das dann klären. Und dann darf man auch von der Kirche verlangen, dass sie hier klipp und klar die Fakten offenlegt, nichts vertuscht.

Ob man dann den Papst um eine Entschuldigung bittet, das ist wiederum ein anderes Kapitel. Ich tue mich schwer, von Leuten eine Entschuldigung zu fordern, die selber ja gar nicht involviert gewesen sind. Vor allen Dingen, wenn ein zeitlicher Abstand da ist, der sie ja noch nicht einmal indirekt verantwortlich macht. Das muss man klären. Aber ich denke, da wird auch jemand wie Papst Franziskus einen Weg finden.

DOMRADIO.DE: Der Bischof von Kamloops in Kanada hat jedenfalls der indigenen Gemeinschaft in einem Brief schon Unterstützung zugesichert. Bringt das nicht doch den Vatikan auch in Zugzwang?

Nersinger: Jein, würde ich sagen. Natürlich, aber ich kann nur wiederholen: Man muss erst einmal aufklären, was geschehen ist. Dass es bestimmtes Verhalten gegeben hat in früheren Zeiten, das ist ganz klar. Das war aber auch etwas, was die ganze Gesellschaft getan hat. Und da müssen wir natürlich sehen, dass so etwas nicht mehr geschieht. Und man muss dann auch aufklären, welche Vorfälle geschehen sind. Da bin ich schon dafür, dass man rücksichtslos aufklärt, ohne irgendetwas zu vertuschen. Wie man dann damit umgeht, das ist ein neues Kapitel, eine neue Seite, die man aufschlägt. Und dass man natürlich auch Formen der Entschuldigung findet.

Aber ich denke, da muss man, wie ich schon gesagt habe, sehen, dass das ja schon in vergangenen Zeiten gewesen ist. Man sollte dann auch, um das nicht zu einer billigen Ausrede werden zu lassen, wirklich genau hinschauen, wie man sich entschuldigt. Aber die Forderungen direkt an Papst Franziskus zu stellen, halte ich für doch etwas bedenklich, weil es ihn erstens persönlich nicht betroffen hat, weil man noch nicht genau weiß, was geschehen ist und weil man damit, glaube ich, eher den Opfern schadet. Dass man sie auch nicht ernst nimmt. Man sollte sie jetzt konkret ernst nehmen und konkret die Sache aufarbeiten.

DOMRADIO.DE: Aus aktuellem Anlass müssen wir noch über einen Rücktritt reden. Am Freitag hat der Münchner Kardinal Marx Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten, auch weil er Verantwortung übernehmen will im Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt innerhalb der katholischen Kirche. Waren Sie überrascht?

Nersinger: Da muss ich auch wiederum sagen: Jein. Ich denke, es ist ein gutes und schönes Zeichen, wenn Bischöfe, Oberhirten sagen: Wir haben hier Verantwortung gehabt, wir haben diese Verantwortung vielleicht, vermutlich nicht in dem Maße wahrgenommen, wie sie uns eigentlich angetragen ist. Das finde ich dann schon gut, dass man Verantwortung übernimmt, auch wenn man persönlich vielleicht gar nicht involviert ist. Aber man ist natürlich in der Position eines Oberhirten, eines Bischofs wie in einem Unternehmen. Auch da ist die Geschäftsleitung letztendlich verantwortlich für das, was im Unternehmen geschehen ist. Und sie hat halt eine Aufsichtspflicht. Wie das nun im Einzelnen aufzulösen ist, das werden wir noch sehen.

DOMRADIO.DE: Kardinal Marx hat gesagt, er will mit diesem angebotenen Rücktritt ein Zeichen setzen. Was glauben Sie? Was wird dieses Zeichen bewirken?

Nersinger: Ich denke, dass das schon gesehen wird und eine Wirkung haben kann. Welche Wirkung das haben kann, da wäre ich noch vorsichtig. Da müssen wir noch abwarten. Er hat ein Signal, ein Zeichen gesetzt. Ich persönlich vermute, dass das schon nachwirkt und, dass der ein oder andere Bischof sich jetzt auch überlegen muss: Wie handle ich? Wie stehe ich zu den Sachen, die in meiner Diözese geschehen sind? Von daher ist es eigentlich ein positives Zeichen. 

Das Interview führte Heike Sicconi.


Schuhe sollen an die mehr als 200 Kindern erinnern, die in einer Internatsschule in Kamloops, Kanada, zu Tode kamen / © Jason Franson (dpa)
Schuhe sollen an die mehr als 200 Kindern erinnern, die in einer Internatsschule in Kamloops, Kanada, zu Tode kamen / © Jason Franson ( dpa )

Kanada, Kamloops: Die ehemalige Kamloops Indian Residential School / © Andrew Snucins (dpa)
Kanada, Kamloops: Die ehemalige Kamloops Indian Residential School / © Andrew Snucins ( dpa )

Vatikanexperte Ulrich Nersinger (EWTN)
Vatikanexperte Ulrich Nersinger / ( EWTN )
Quelle:
DR
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