Helfer besorgt über Lage in Äthiopiens Krisen-Region Tigray

Hunger, Angst, Gewalt

​Nach UN-Angaben brauchen in der äthiopischen Tigray etwa 2,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Die Kämpfe halten an. Hilfsorganisationen können ihrer Arbeit nur schwer nachkommen. Die Lage spitzt sich zu.

Autor/in:
Markus Schönherr
Flüchtlinge in Äthiopien / © Kay Nietfeld (dpa)
Flüchtlinge in Äthiopien / © Kay Nietfeld ( dpa )

Merhawit war die beste Schülerin ihrer Klasse. Doch es ist mehr als ein Jahr her, seit sie eine Schule zuletzt von innen sah. Stattdessen verbringt die 16-Jährige ihren Tag mit der Suche nach Essbarem. "Sie floh vor den Kämpfen in West-Tigray und legte 300 Kilometer mit zerschlissenen Flipflops und ihrem kleinen Bruder auf dem Rücken zurück", sagt James Elder, Sprecher des Kinderhilfswerks Unicef. Laut Helfern vor Ort eskaliert die humanitäre Lage in der äthiopischen Unruheprovinz zusehends.

Anfang November hatte Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed Truppen in den Norden geschickt, um die "Volksbefreiungsfront von Tigray" zu entmachten. Die regionale Regierungspartei hatte Abiy wegen verschobener Wahlen dessen Legitimität abgesprochen. Nach einem kurzen, heftigen Kampf verkündete die Regierung in Addis Abeba den Sieg. Jedoch häufen sich seither die Berichte von Massakern an Zivilisten. Soldaten sollen Frauen systematisch vergewaltigt haben.
Für Aufsehen sorgte erst vor kurzem ein Fall, wobei ein Arzt Tücher, Nägel, einen Stein und eine Plastiktüte aus dem Körper eines der Opfer entfernte. Bei den Peinigern soll es sich um Soldaten aus Eritrea gehandelt haben. Das Nachbarland unterstützt Äthiopiens Truppen.

Millionen Menschen auf der Flucht

Inzwischen sind mehr als eine Million Menschen auf der Flucht. Nach UN-Angaben benötigen etwa 2,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe.
"In größeren Städten ist das Leben wieder zur Normalität zurückgekehrt", sagt die Ostafrika-Sprecherin des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), Alyona Synenko, die vergangene Woche in die Regionalhauptstadt Mekelle reiste. "Die Mobilfunknetze wurden wiederhergestellt, Geschäfte und Cafes haben wieder geöffnet, ebenso die Märkte. Aber sobald man die Städte verlässt, sieht die Situation ganz anders aus." In vielen entlegenen Regionen Tigrays tobten nach wie vor Kämpfe.

Zigtausende Äthiopier leben in Camps für Vertriebene. "Ihnen fehlt es an Lebensmitteln ebenso wie Trinkwasser. Viele hatten bei ihrer Ankunft nicht mehr als die Kleidung, die sie an ihren Körpern trugen", so Synenko. Die Helfer fürchten, dass es zu Ausbrüchen von Krankheiten wie Cholera kommt, sobald nächsten Monat die Regensaison beginnt. Unicef spricht von einer "tickenden Zeitbombe" in den Flüchtlingslagern. Kaum besser geht es laut Synenko den Verbliebenen: "Als die Kämpfe ausbrachen, war Erntezeit. Viele verloren wegen des Konflikts ihre Vorräte." Und weil Bauern nach wie vor nicht auf ihre Felder können, sei auch die kommende Ernte ungewiss.

Keine Informationen über entlegene Gebiete

Das IKRK unterstützt mehrere Krankenhäuser in Tigray und hilft den Vertriebenen mit Wasser, Sanitäranlagen und Medikamenten - ein humanitärer Einsatz, der in den kommenden Monaten weiter verstärkt werde. Jedoch habe die anhaltende Gewalt die Helfer von Bedürftigen in entlegenen Gegenden abgeschnitten: "Wir haben kaum Einblick in die humanitäre Lage dort. Das ist besorgniserregend, denn mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die Not viel größer als in den Städten", so Synenko.

Alarm schlägt auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Sie unterstützt ein Krankenhaus in der antiken Stadt Aksum. Jedoch seien Zufahrtsstraßen dorthin seit zwei Wochen blockiert. "Die Zeit wird knapp für Patienten, die auf lebensrettende medizinische Hilfe angewiesen sind", heißt es aus dem MSF-Regionalbüro in Kenia.
Impfkampagnen seien ausgesetzt, 127 unterernährten Kindern drohe ohne therapeutische Fertignahrung der Hungertod. Für Operierte gebe es keine Schmerzmedikamente mehr. "Wir appellieren an politische und militärische Führer, die Lieferung von lebenswichtigen Gütern nach Aksum so schnell wie möglich zuzulassen."

Zumindest gibt es einen Hoffnungsschimmer: Sorge, dass die Welt die Not ignoriert, hat IKRK-Sprecherin Synenko nicht. So habe der Tigray-Konflikt es im letzten halben Jahr in die globalen Schlagzeilen geschafft. Am Donnerstag äußerte auch der Weltsicherheitsrat "tiefe Sorge" über die Berichte von Menschenrechtsverletzungen. "Nichtsdestotrotz braucht es immer noch eine starke humanitäre Antwort", unterstreicht Synenko.


Quelle:
KNA
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